Ihre Zahl ist unklar, aber steigend. Die Arbeiterkammer kritisiert, dass Neue Selbstständige oft in diese Rolle gedrängt werden.
Die Furche: Ist die Entwicklung der letzten zehn bis 15 Jahre, dass sich klassische Anstellungen vermehrt in Richtung Selbstständigkeit wandeln, grundsätzlich bedenklich?
Doris Lutz: Da muss man sicher differenzieren. Aber es gibt Tendenzen, die potenziell nicht gut für die Gesellschaft sind. Für die Gesundheit der Betroffenen wie auch für das Sozialsystem.
Die Furche: Was meinen Sie konkret?
Lutz: An erster Stelle steht dessen langfristige Finanzierung. Zwar bewegen sich die Sozialversicherungsbeiträge der Neuen Selbstständigen auf ähnlichem Niveau wie bei klassischen Dienstnehmern. Aber wenn man das fehlende Urlaubs- und Weihnachtsgeld bedenkt, gehen damit auch Beiträge für die Kranken- und Pensionsversicherung verloren. Auch die steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten tragen dazu bei, dass die Finanzierung der sozialen Sicherheit schwieriger wird.
Die Furche: Da geht es wohl darum, sich Steuern zu sparen ...
Lutz: Ja, aber zugleich wird das Sozialsystem durch den Beitragsrückgang geschwächt. Die Höhe der Kranken- und Pensionsversicherungsbeiträge richtet sich ja nach der Höhe des Einkommens. Und es gibt auch solche, die sich aufgrund mangelnder Eignung gleich in die Prekarität manövrieren. Das alles schafft auch ein künftiges Problem: Viele Neue Selbstständige kommen vielleicht nur knapp über die Mindestpension. Wenn sie überhaupt genug Beitragszeiten für eine Pension sammeln.
Die Furche: Wird das ein größeres Problem?
Lutz: Auf den ersten Blick sieht es keineswegs so aus. Je nachdem, ob man Berufe wie Wirtschaftstreuhänder, Dentisten oder Tierärzte zu den Neuen Selbstständigen zählt, gehen wir von etwa 38.000, ansonsten von rund 28.000 aus. Das ist ein verschwindend geringer Prozentsatz der Erwerbstätigen. Allerdings sehen wir, wie sich atypische Dienstverhältnisse insgesamt entwickeln. Und da sind die Neuen Selbstständigen nur ein Teilphänomen. Wenn wir freie Dienstnehmerinnen und Dienstnehmer, geringfügig oder in Teilzeit Beschäftigte sowie Leiharbeiter berücksichtigen, sind wir, vorsichtig gerechnet, im Bereich von einer Million Menschen. Das ist, bei vier Millionen Erwerbstätigen in Österreich, ein Viertel.
Die Furche: Eine Studie ergab vor ein paar Jahren, dass sich jeder vierte Neue Selbstständige eine andere Erwerbsform wünscht. Weniger als sechs Prozent jedoch sehnen sich nach echtem Unternehmertum. Die meisten wollten eine Anstellung. Warum?
Lutz: Es ist vor allem die persönliche Belastung. Die Leute können sich - ohne Kapitalreserven - keinen oder nur wenig Urlaub leisten, haben keine Absicherung für den Einkommensausfall bei Krankheit und erhalten, wenn sie sich nicht extra versichert haben oder Ansprüche aus einer früheren unselbstständigen Beschäftigung haben, kein Arbeitslosengeld. Oder nur eines, das den Einkommensverlust nicht ausgleicht. Wenn Sie sich den Schuldenreport der Schuldnerberatung anschauen, dann sind dort 16 Prozent der Menschen, die sich überschuldet haben, gescheiterte Selbstständige. Ein klassischer Unternehmer unterscheidet sich von den genannten aber durch das Kapital, das er investieren kann, und die Möglichkeit, andere für sich arbeiten zu lassen.
Die Furche: Mit der durchlebten Wirtschaftskrise wurde es zunehmend schwerer, Startkapital von einer Bank zu bekommen ...
Lutz: Genau. Da hat jemand vielleicht eine interessante Geschäftsidee, aber im Rahmen der Neuen Selbstständigkeit bewegt man sich oft lange Zeit am Rande des Prekariats. Es stellt sich dauernd die Frage: Schaffe ich es, oder schaffe ich es nicht? Umso mehr dort, wo es nicht ganz freiwillig geschieht.
Die Furche: Hauptkritik der Arbeiterkammer ist also, dass das sogenannte Ein-Personen-Unternehmen kaum in der Lage ist, Rücklagen zu bilden? Einerseits, um Steuer und Sozialversicherung abzudecken, andererseits, um für Erholung und für den Notfall - Krankheit und Arbeitslosigkeit nach dem Scheitern der Geschäftsidee - vorzusorgen?
Lutz: Ja. Wir tun uns schwer, das zahlenmäßig festzumachen, weil es nur wenige Erhebungen gibt. Aber diese Leute müssten das Zwei- oder Dreifache des Nettolohns eines unselbstständig Beschäftigten einnehmen, um entsprechend vorsorgen zu können. Die anfängliche Freude über das "Mehr“ gegenüber dem Nettolohn entpuppt sich meist erst dann als Illusion, wenn eine Kurskorrektur extrem schwer oder nicht mehr möglich ist.
Die Furche: Viele, die als Neue Selbstständige tätig sind, haben also schlicht nicht das nötige Kapital bzw. die Fähigkeiten dazu?
Lutz: Das kann man sagen. Die Wirtschaftskammer bejubelt zwar immer, dass die Zahl der "Unternehmer“ steigt. Aber das sind eben teils Leute, die sich die Selbstständigkeit nicht ausgesucht haben, nicht budgetieren, kalkulieren und bilanzieren können. Weil sie sich nicht als Unternehmer fühlen.
Die Furche: Wie sehen Sie das Vorgehen des AMS, Leuten mit einem Gründerprogramm die Selbstständigkeit schmackhaft zu machen. Werden da Scheiternde produziert?
Lutz: Im Gründerprogramm des AMS wird mit speziellen Maßnahmen genau darauf geachtet, dass es nicht zu diesem Scheitern kommt. Gerade für Arbeitslose ist wichtig, neben der traditionellen Vermittlung in die unselbstständige Beschäftigung auch Alternativen eröffnet zu bekommen, um sich eine eigenständige wirtschaftliche Existenz zu schaffen. Und darin scheint dieses Gründerprogramm doch ziemlich erfolgreich zu sein.
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