"Verhindern, nicht nur einfach jammern"

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Irmgard Schmidleithner, Vizepräsidentin des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) und Vorsitzende der ÖGB-Frauen, will die Zunahme von prekären Beschäftigungsverhältnissen verhindern.

dieFurche: Die hohe Arbeitslosigkeit drängt viele Menschen in prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Wissenschafter gehen davon aus, daß in ein paar Jahren rund zwei Drittel der Arbeitnehmer(innen) in sogenannten atypischen Beschäftigungsverhältnissen tätig sein werden, beispielsweise als unselbständig Selbständige, Leiharbeiter(innen) oder Telearbeiter(innen). Meist ohnehin von vielen sozialen Leistungen ausgegrenzt, fühlen sich diese Menschen oft auch von der Gewerkschaft nicht vertreten. Wie wollen Sie darauf reagieren?

Irmgard Schmidleithner: Es stimmt, daß die prekären Dienstverhältnisse zunehmen. Es gibt eine Gruppe, die sich nach wie vor gewerkschaftlich organisiert und Menschen, die sich nicht von der Gewerkschaft vertreten fühlen. Ich muß aber auch sagen, daß die Betroffenen selber anfangen müssen, sich zu organisieren. Das kann natürlich über die Gewerkschaft passieren. Sie müssen ihre Interessen bündeln und entsprechende Forderungen stellen.

Andererseits hat die Gewerkschaft von Beginn an auf die Gefahren der atypischen Beschäftigungsverhältnisse hingewiesen. Damals sind wir oft als veraltet Organisation bezeichnet worden. Wir haben immer gesagt: Für jene, die keine arbeits- und sozialrechtliche Absicherung bei einem anderen Dienstgeber haben, ist das eine große Falle. Sie bekommen meistens keine Fortzahlung bei Erkrankung, Urlaubs- und Sonderzahlungen.

dieFurche: Darauf hinzuweisen ist ja gut und schön, aber was wollen Sie für jene Menschen machen, die bereits in solchen prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten müssen?

Schmidleithner: Es ist ja nicht so, daß die Gewerkschaft noch nicht reagiert hätte. Wenn ich beispielsweise an die geringfügig Beschäftigten denke: Am Anfang waren das nur Frauen, die kurzfristig in einem Betrieb ausgeholfen haben. Als dann aber ganze Branchen entstanden sind, die geringfügige Beschäftigung angeboten haben, etwa im Handel, Gastgewerbe und in der Reinigung, da haben wir reagiert, damit diese Gruppe nicht völlig aus dem arbeitsrechtlichen und sozialrechtlichen Schutz herausfällt. Und da ist uns auch viel gelungen.

dieFurche: Welche Hilfe können sich Betroffene von Ihnen erwarten?

Schmidleithner: Wir wollen sie miteinbeziehen. Sie bekommen beispielsweise einen sehr günstigen Mitgliedsbeitrag in der Höhe von 25 Schilling pro Monat. Wir können entsprechende Angebote schaffen, aber sie müssen auch angenommen werden. Das heißt eben auch, sich selbst zu organisieren. Ich kann auf der einen Seite nicht immer verlangen, daß jemand etwas für mich tut, und gleichzeitig sagen, die Gewerkschaft ist uninteressant für mich.

Auf der anderen Seite ist die Gewerkschaftsbewegung laufend dabei, gesetzliche Rahmenbedingungen zu schaffen, da es wichtig ist zu verhindern, daß viele Menschen - und da vor allem auch Frauen - in prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten. Denn das sind meist Dienstverhältnisse, die nicht existenzsichernd sind. Dadurch wird auch strukturelle Armut geschaffen und gefördert, und das will ich verhindern.

dieFurche: Diese Flexibilisierung ist aber eine rasant gesellschaftliche Entwicklung, die wohl kaum mehr aufzuhalten ist.

Schmidleithner: Ich kann von vornherein sagen: So, diese Entwicklung wird kommen, und wir müssen jetzt eine Lösung anbieten, wie wir das in den Griff bekommen.

Oder aber ich sage: diese Entwicklung ist etwas, was ich absolut nicht will. Und wenn ich sie schon nicht ganz verhindern kann, möchte ich Schwellen einbauen, um damit diese Entwicklung zu bremsen.

Da mögen Sie mich verkorkst oder als Fossil in der Gewerkschaft bezeichnen. Mein Ziel in der Gewerkschaftsbewegung ist, daß diese Maßnahmen nicht in dem Ausmaß kommen, wie sie derzeit von Neoliberalisten geplant sind. Würde ich nicht so denken, wäre ich als Gewerkschafterin sicher falsch am Platz. Was mich manchmal schockiert ist, daß manches in diesem Land schon als gegeben hingenommen wird. Da kommt jetzt eine Situation, die Beschäftigte nicht mehr menschenwürdige Arbeitsbedingungen zugesteht, zum Teil sogar Ausbeutung ärgster Art ist.

Nur zu überlegen, wie kann ich diese Menschen absichern, das wird nicht funktionieren. Mein gewerkschaftliches Verständnis geht auf alle Fälle nicht in diese Richtung.

Das Gespräch führte Monika Kunit.

Buchtip zum Thema Atypische" Arbeitsverhältnisse etwa Leiharbeit, geringfügige Beschäftigung, Werkverträge, befristete Arbeitsverhältnisse, Scheinselbständigkeit, Telearbeit, Arbeit auf Abruf und Heimarbeit nehmen rasant zu. Einige Wissenschafter gehen davon aus, daß in Zukunft nur noch eine Minderheit einen "fixen" Arbeitsplatz haben wird. Alle anderen werden auf atypische oder Niedriglohnstellen ausweichen müssen.

Grund genug für die Gewerkschaften, sich mit diesem Thema zu befassen, denn diese neuen Beschäftigungen sind arbeits- und sozialrechtlich oft prekär: niedriges und kaum kontinuierliches Einkommen, unkalkulierbare Beschäftigungsstabilität, ungenügender sozialer Schutz, mangelnder Zugang zu betrieblicher Mitbestimmung und geringere Karrierechancen.

Auf Einladung des Gewerkschaftsbundes befaßten sich zahlreiche Betroffene, Gewerkschafter und Wissenschafter, unter ihnen Politikwissenschafter Emmerich Talos und die Sozialforscherin Ulrike Gschwandtner, mit der Zukunft der Arbeit. Herausgekommen ist die Publikation "Was ist morgen noch normal? - Gewerkschaften und atypische Arbeitsverhältnisse".

So beschreibt etwa Heinz Pichler von der Arbeiterkammer Kärnten das Dilemma der neuen Selbständigen so: "Mehr oder weniger freiwillig wagen viele inzwischen den Sprung in die Selbständigkeit. Oft nur zum Schein, denn nicht selten ist ihr einziger Auftraggeber der ehemalige Betrieb - Outsourcing nennen Experten diese Verselbständigung eines Festangestellten."

Das Buch ist für all jene interessant, die sich näher mit den neuen Formen der Arbeit auseinandersetzten wollen. kun.

Was ist morgen noch normal?

Gewerkschaften und atypische Arbeitsverhältnisse Herausgeber: Gerhard Gstöttner-Hofer, Erwin Kaiser, Sepp Wall-Strasser und Wolfgang Greif. Verlag ÖGB, Wien 1997, 304 Seiten, öS 248,

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