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Zuwarten bringt nichts. Auch in zehn Jahren ist Österreich nicht EU-erweiterungsreifer als heute.

Atomkraftgegner erklettern die Fassade der ÖVP-Zentrale in Wien, entrollen Anti-Temelín-Plakate, besetzen das Haus, fordern, dass die Veto-Karte gegen den EU-Beitrittswerber Tschechien nicht länger nur im Ärmel des niederösterreichischen Landeshauptmanns bleibt, sondern vom Kanzler endlich gespielt wird. Österreichs deklarierteste Pro-Europa- und Pro-EU-Erweiterungs-Partei in der Bredouille. Und als wäre eine für alle Beteiligten befriedigende Lösung der Causa-Temelín nicht bereits schwierig genug, bahnt sich in der Transitfrage schon das nächste Konfliktszenario an. Als nächstes blockieren dann Tiroler Transitgegner nicht nur die Brenner-Autobahn, sondern auch die Wiener Parteizentralen und fordern ein Ende des Verkehrswahnsinns in ihren Bergtälern.

Von dieser teilweise schon verzweifelten Wut gegen Temelín, gegen die Transithölle und schließlich gegen die EU als Ganzes scheinbar völlig unbeeindruckt präsentierte die Europäische Kommission dieser Tage ihre Einschätzung, wonach zehn der 13 EU-Kandidatenländer die Chance haben, ihre Beitrittsverhandlungen bis zum Ende des Jahres 2002 abzuschließen - sie damit 2004 Mitglieder der Europäischen Union werden können.

"Big Bang" (Urknall) nennt die Kommission dieses Szenario, das die Union mit einem Schlag um 75 Millionen Menschen vergrößern würde. Wobei die Kommission auch unmissverständlich klargestellt hat, dass diese Beitrittswelle "keine Utopie, sondern eine realistische und realisierbare Vorgabe" ist. Sicher, diese Erklärung ist kein Freifahrtsschein für die Beitrittswerber. Trotz der im Allgemeinen positiven Bewertung spart die Kommission nicht mit Kritik an einzelnen Kandidaten, bemängelt unter anderem die weit verbreitete Korruption und Wirtschaftskriminalität in den osteuropäischen Staaten und lässt auch die in den Beitrittsverhandlungen erfolgreichsten Bewerber noch ein wenig zappeln, indem sie erklärt: "Es gibt noch kein Land, das alle Bedingungen erfüllt." Doch summa summarum: "Der Weg für eine friedliche und demokratische Vereinigung unseres Kontinents ist frei" (Romano Prodi) - und es wird nicht mehr lange dauern, bis er begangen wird.

Es ist nicht vermessen, wenn man diese Erklärung der Kommission als einen überfälligen Schritt bezeichnet. Denn wenn Polen, Tschechen, Ungarn, Slowenen und Slowaken oder die Balten 2004 als Vollmitglieder der Union beitreten, sind 15 Jahre seit dem Fall des Eisernen Vorhangs vergangen. Und 15 Jahre sind eine lange Zeit für jene Menschen Mittel- und Osteuropas, die mit dem Eintritt in die Europäische Union die Besiegelung ihrer Rückkehr in die Normalität nach Jahrzehnten der Diktatur verbinden. 15 Jahre können lange sein, wenn zur Erreichung der EU-Ziele wirtschaftliche Entbehrungen in Kauf genommen werden müssen, der heutige Verzicht mit dem besseren Morgen entschuldigt wird. 15 Jahre lang auf dieses Morgen in der Union zu warten, ist eine verdammt lange Zeit. Und 15 Jahre sind auch eine lange Zeit für die Politiker in den Beitrittswerberstaaten. Getrieben von den Hoffnungen der Bevölkerung zuhause, hingehalten, gegängelt, bevormundet und geschulmeistert von den Behörden in Brüssel, von den Kolleginnen und Kollegen aus den EU-Ländern. 15 Jahre lang zwischen den Stühlen sitzen, Zuckerbrot und Peitsche spüren, dabei nie den vermeintlich leichteren Weg einschlagen dürfen und den Radikalpositionen verfallen, ist eine sehr schwere Aufgabe.

15 Jahre können aber auch eine kurze Zeit, eine zu kurze Zeit sein: für die EU als Ganzes, vor allem aber für die einzelnen Mitgliedsstaaten. Denn nicht nur die Beitrittskandidaten sind in der Umsetzung des EU-Regelwerks teilweise säumig - und wurden deshalb von der Kommission getadelt -, die Union selbst, ihre Organe und Institutionen sind alles andere als erweiterungsreif. Nur, wer tadelt den Verzug der Europäischen Union, stellt ihr die Rute für Säumigkeit ins Fenster? Ihre Mitgliedsstaaten? Sicher nicht. Zum einen, weil sie durch ihre Weigerung, Kompetenzen abzugeben, durch ihr Beharren auf dem Einstimmigkeitsprinzip einen großen Anteil an der Schwerfälligkeit und Behäbigkeit des EU-Koloss' haben. Zum anderen, weil die Mitgliedsstaaten selbst nicht einmal bedingt erweiterungsreif sind. 15 Jahre: für die, die in die Union hinein wollen, schon zu lange, für die, die drinnen sind, noch immer zu kurz.

Angenommen aber, die Erweiterung ließe sich noch einmal um fünf weitere Jahre verzögern. Ist davon auszugehen, dass zum Beispiel das EU-Mitgliedsland Österreich in dieser Zeit die nötigen Maßnahmen in der Infrastruktur setzt, um das durch die Erweiterung zunehmende Verkehrsaufkommen für die eigene Bevölkerung erträglich zu machen. Noch weitere fünf Jahre, ach was, nicht kleinlich sein, noch zehn Jahre dazu: Ist dann der LKW-Verkehr auf die Schiene verlegt, sind dann die Berge in Nord-Süd und Ost-West Richtung ausreichend untertunnelt, ist dann ein der Kostenwahrheit Geltung tragendes Mautsystem installiert? Papperlapapp! In fünf, ja auch in zehn Jahren wäre doch dieselbe Jammerei wieder zu hören, würde die Schuld neuerlich bei den Beitrittswerbern und in Brüssel und nicht bei den eigenen politischen Versäumnissen gesucht werden.

Bis der Ärger in den Kandidatenländern sich Luft macht. Die EU-Gegner noch mehr Zulauf als bereits heute haben und die Oberhand gewinnen. Dann pfeifen diese zu Unrecht hingehaltenen Staaten auf die EU und ziehen andere Allianzen in Betracht (gerade bei Tschechien ist das leicht möglich!) und Temelín kocht weiter - dann aber ohne die Verpflichtung auf Einhaltung der EU-Normen. Noch einmal mit der Erweiterung zuwarten? Warum? Mit der Veto-Drohung im Ärmel wäre auch in fünf Jahren wieder zu rechnen. Doch für diese Falschspielertricks gilt dann immer noch das Gleiche wie heute: Was aus dem Ärmel geschüttelt wird, ist durchwegs erbärmlich.

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