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Die Qual nach der Wahl

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Das Ergebnis der Nationalratswahlen vom 6. März hat eines deutlich gemacht: die These von den monolithischen Stammwählerblöcken 'der beiden großen Parteien ist offensichtlich unrichtig oder zumindest unrichtig geworden. Möglicherweise war sie immer falsch, nur ist das vielleicht weniger augenfällig gewesen, denn die in der Vergangenheit von Wahl zu Wahl nur relativ geringfügigen Änderungen der Bestandsmassen an Wählerstimmen, schienen diese These zu bekräftigen. Vorerst dürfte sie aber doch der Vergangenheit angehören. Es gibt in Österreich eine bedeutsame Anzahl an fluktuierenden Wählerstimmen, und es ist wahrscheinlich, daß sie in Zukunft eher zunehmen werden.

So unterschiedlich das Wahlergebnis für beide Parteien gewesen ist, zu einer Konsequenz wird es beide zwingen: ihre eigene Position kritisch zu prüfen. Die Schlußfolgerungen aus dieser Gewissenserforschung sollten die Weichen für die österreichische Politik der nächsten Jahre stellen. Die realistischen Alternativen für die Sozialisten scheinen relativ leicht formulierbar zu sein; etwas komplizierter liegen die binge bei der österreichischen Volkspartei. Zunächst hat sie die absolute Mehrheit errungen, und damit taucht bereits die erste Gefahr auf, nämlich das Argument, warum (sollte irgend etwas geändert werden; eine bessere Bestätigung eines politischen Kurses als einen Wahlsieg in diesem Ausmaß könne es doch nicht geben? Je mehr der 6. März in die Vergangenheit rückt, je stärker die Tagespolitik wieder zu dominieren beginnt, je mehr die kleinen Dinge wieder zu den großen Problemen werden, um so größeres Gewicht könnte dieses Argument erlangen. Gewiß nicht zum Vorteil der Volkspartei.

Immerhin hat diese Wahl eines endgültig bewiesen: sie wurde mit den Stimmen der Arbeitnehmer gewonnen. Das ist an sich nichts Neues.

Eine sorgfältige Analyse der Nationalratswahlergebnisse seit 1945 würde mit ziemlicher Sicherheit ergeben, daß die Volkspartei alle Wahlen nur mit Arbeitnehmerstimmen gewonnen hat, weil die Stimmen der Selbständigen und Bauern niemals für eine Parlamentsmehrheit ausgereicht hätten. Aber das ist kein Geheimnis und keine neue Erkenntnis, sondern eine ohnehin bekannte Tatsache.

Von ihrer Gründung an ist die Volkspartei auch Arbeitnehmerpartei gewesen. Möglicherweise ist das in der stürmischen Wiederaufbauperiode der fünfziger Jahre etwas in den Hintergrund getreten, das Bild der Partei wurde auch stark von Persönlichkeiten geprägt die nicht aus dem alten christlichsozialen Arbeitnehmerlager stammten. Die wirtschaftlichen Erfolge dieser Periode ließen manches in den Hintergrund treten, das an der Wiege der Partei im Vordergrund gestanden hatte. Die fünfzehn programmatischen Leitsätze, mit denen die ÖVP im Juni 1945 an die Öffentlichkeit getreten ist, sind ein nach wie vor gültiges Indiz für die Kräfte, die in der Partei wirken. So lautet zum Beispiel der Leitsatz zur Sozialpolitik: „In (sozialpolitischer Hinsicht will die österreichische Volkspartei einen echten Sozialstaat, in dem jedem Tüchtigen der Aufstieg zu allen Stellen möglich ist, einen Staat mit vorbildlicher Sozialgesetzgebung und mustergültigen sozialen Einrichtungen. Ein solcher Sozialstaat verlangt: Anerkennung des Rechtes auf den Ertrag der Arbeit und auf persönliches Eigentum, gerechte Verteilung und Nutzung aller Güter, gerechte Aufteilung der Lasten bei besonderer Berücksichtigung des Familienstandes (Kinderreichtum), gerechter Lohn. Altersversicherung für alle Stände, geeignete Vorkehrungen zur Schaffung von Eigensiedlungen und Ermöglichung des Grunderwerbes für alle arbeitenden Menschen, insbesondere für Arbeiter, Angestellte und Beamte, endlich eine Wohnungspolitik, die durch großzügige Bereitstellung staätlicher und gemeindlicher Mittel jedem Staatsbürger zu einem menschenwürdigen und billigen Heim verhilft.“ — Manche Formulierung ist stark vom Pathos der christlichen Sozialreform geprägt, aber könnte eine Neuformulierung inhaltlich heute wesentlich anders aussehen?

Vielleicht klingt die Formulierung in manchen Ohren ungewohnt: Aber die Volkspartei ist nicht nur nach der Zusammensetzung ihrer Wähler, sondern auch ihrer Programmatik nach immer eine Arbeitnehmerpartei gewesen oder, vielleicht präziser: eine Partei der kleinen Leute, der Bauern, Arbeitnehmer und Gewerbetreibenden. Aber was sollte denn eine Partei in Österreich anderes sein als eine Partei der kleine Leute?

In den letzten Jahren hat der Arbeitnehmerflügel der Partei innerparteilich wieder etwas von dem Terrain gewonnen, das er in den fünfziger Jahren verloren hatte; die Öffentlichkeit wurde wieder daran erinnert, daß es auch einen starken Arbeitnehmerflügel in der ÖVP gibt. Das ist für die ÖVP keine einfache Situation.

Die Wiederaufbauperiode vollzog sich unter anderen ideologischen Vorzeichen, als es sich manche Kreise im ÖAAB vorgestellt hatten. Der wirtschaftspolitische Kuns war unter den gegebenen Verhältnissen erfolgreich, und es ist zu beklagen, daß sich in diesen stürmischen fünfziger Jahren manche im ÖAAB in ein ideologisches Traumland zurückzogen und den Kontakt mit der ökonomischen Realität verloren. Unterdessen besetzten Vertreter anderer Gruppen wichtige Schalthebel, der ÖAAB wurde zurückgedrängt. Die von den Sozialisten mit Geschick ins Spiel gebrachte Zusammenarbeit der Sozialpartner mit der Formel: Arbeitnehmervertretung ist gleich Sozialistische Partei, Arbeitgebervertretung ist gleich Volkspartei, begann für die ÖVP gefährlich das Bewußtstem der Öffentlichkeit zu beeinflussen. Die mit dieser Linie verbundene sozialistische Hoffnung, daß die soziologische Entwicklung, das geradezu zwangsläufige Anwachsen der Unselbständigen auf der einen und die Abnahme der Selbständigen und Bauern auf der anderen Seite, eine sozialistische Mehrheit bringen müßte, ist schon bitter bei den Wahlen von 1962, noch bitterer bei den Wahlen von 1966 enttäuscht worden. Der Trend ist offenbar doch kein Genosse. Aber das zu untersuchen ist Sache der Sozialisten.

Für die Österreichische Volkspartei bedeuten die eindrucksvoll gewonnenen Nationalratswahlen, daß sie den seit einigen Jahren im Gang befindlichen Prozeß des innerparteilichen Aufholens des ÖAAB beschleunigen muß, und das ist auf eine einfache Formel zu reduzieren. Machtzuwachs einer Gruppe muß im konkreten Fall zumindest Machtstagnation anderer Gruppen bedeuten. Davor die Augen zu schließen, hieße irreal denken. Es wird eines außerordentlichen politischen Fingerspitzengefühls bedürfen, diesen notwendigen Prozeß durchzuführen, ohne das Gefüge der Partei zu erschüttern; wobei nun die Stärkung des Arbeitnehmerflügels der Volkspartei nicht mißverstanden werden darf. Sie bedeutet nicht primär, daß irgendwelche Forderungen des ÖAAB, die schon lange erhoben worden sind, nunmehr erfüllt werden, das ist zwar wichtig, aber zweitrangig, sondern heißt, noch stärkere Mitwirkung des ÖAAB bei der Formulierung der Gesamtlinie der Partei in allen politischen Bereichen, bedeutet für manche Gruppen in der ÖVP bewährte, eingefahrene Methoden der politischen WilJensbildung außerhalb der Partei nicht mehr in erster Linie zu benützen, bedeutet zunächst stärkere Verlagerung der Willensbildung in die Regierung. Bleibt die Regierung — vorausgesetzt, es ist wieder eine

Koalitionsregierung — so wie sie in den letzten Jahren gewesen ist, ir wichtigen Fragen Vollzugsorgan dei Interessenvertretungen, wird es die ÖVP in Zukunft sehr schwer haben Es besteht dann nämlich die Gefahr daß der Trend tatsächlich zum Genossen wird. Vor allem gilt es füi die Zukunft eines zu beachten: die Stammwählerbestände, die, ungeachtet des politischen Kurses einer Partei, diese wählen, reichen offensichtlich nicht mehr aus, um auch nui einigermaßen das politische Gleichgewicht auszubalancieren. Die Parteistrategen müssen auch in Zukunfl den „Erdrutsch“ als normales Wahlergebnis in Rechnung stellen. Füi die Entwicklung einer Demokratie ist das ein erfreulicher Zustand, für eine Partei, die einen so entscheidenden Wahlsieg errungen hat, eine gewaltige Bürde.

Fast alle Schwierigkeiten, in die Österreich in der nächsten Legislaturperiode kommen könnte, werden auch dann auf das Konto der Volkspartei geschrieben werden, wenn die Partei nichts dafür kann. Jede politische Maßnahme, die sich glaubhaft als Begünstigung einer bestimmten kleinen Interessengruppe darstellt, wird auf die ÖVP zurückfallen. Sie wird daher nur dann eine dauerhaft erfolgreiche Politik treiben können, wenn sie die innerparteiliche Diskussion belebt, wenn sie tatsächlich der Öffentlichkeit vor Augen führt, daß sie als moderne Massenpartei in der Lage ist, einen fairen und vernünftigen Interessenausgleich in ihren eigenen Reihen durchzuführen.

Nur wenn die Volkspartei bereit ist, diesen dornenvollen Weg zu gehen, der tatsächlich Reform bedeutet, ohne daß dazu Haupt- und Staatsaktionen erforderlich wären, weil er aus der politischen’ Überzeugung aller Bünde kommen müßte, wird sie ihr „Image“ als moderne Massenpartei verifizieren können.

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