Ein Weckruf für die Europäische Union

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Wir brauchen nicht mehr EU, sondern bloß mehr Solidarität und weniger Egoismus in den zentralen Fragen der Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik. Offenbar haben es aber viele noch immer nicht begriffen, was es heißt, gemeinsam zu agieren. Ein Gastkommentar.

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Wir brauchen nicht mehr EU, sondern bloß mehr Solidarität und weniger Egoismus in den zentralen Fragen der Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik. Offenbar haben es aber viele noch immer nicht begriffen, was es heißt, gemeinsam zu agieren. Ein Gastkommentar.

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Schluss mit dem Krisengerede. Seit Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde und Europa nicht mehr an der Nabelschnur führen will, befindet sich die EU auf Sinnsuche. Sogar EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ließ sich zur Bemerkung hinreißen, dass es an allen Ecken und Enden brennt.

In wenigen Wochen, am 25. März 2017, ist es genau 60 Jahre her, dass die sogenannten Römischen Verträge unterzeichnet wurden, die zunächst die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur Folge hatten. Seither hat dieses von sechs auf 28 Staaten angewachsene Bündnis viele Hochs und Tiefs erlebt. Man kann es aber drehen und wenden wie man will, schlussendlich haben wir es mit einer Erfolgsgeschichte ohne Beispiel zu tun. Das zeigt ein einziger Zahlenvergleich. Die EU umfasst nur sieben Prozent der Weltbevölkerung, dennoch ist sie mit rund 20 Prozent Handelsvolumen die stärkste Wirtschaftsmacht und trägt fast 50 Prozent der weltweiten Sozialleistungen. Sie ist verständlicherweise daher auch das Ziel der Begehrlichkeiten von Millionen Menschen, vom Nahen Osten bis nach Afrika.

Zeit für Gewissenserforschung

Es wird Zeit für Gewissenserforschung, warum plötzlich der EU-Motor ins Stottern geraten ist. Es hätte wahrlich nicht den Betriebsunfall Brexit und vor allem den an sich unerwarteten, aber nunmehr möglichen Paradigmenwechsel in der US-Politik gebraucht, um von einem wake up call für Europa zu sprechen. Dass der europäische Einigungsprozess weit fortgeschritten, aber nicht unumkehrbar sei, gehörte zu den Standard-Sätzen von Alois Mock, jenem österreichischen Politiker, der das Land in die EU führte.

Europa hat sich in den letzten Jahren viel zu sehr auf ein scheinbar geregeltes Umfeld verlassen: eine USA, die den Schutzschirm in Krisenfällen spielt; einen Nahen Osten, in dem halt andere ihre Machtspiele ausüben; ein Afrika, das ohnedies durch das tiefe Mittelmeer vom Kontinent getrennt ist. Mittlerweile, auch ein Resultat der Globalisierung, zeigt sich, dass dieses Europa dringend gefordert ist. An allen Ecken und Enden.

Dem deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble kann man nur beipflichten, wenn er kürzlich meinte, dass Europa nicht mehr so weitermachen dürfe wie bisher und die Probleme selber lösen müsse. Das Schicksal selbst in die Hand nehmen, sich nicht auf andere verlassen: Das ist der eigentliche wake up call für die EU.

Seit vielen Jahren wird von der Notwendigkeit gesprochen, den europäischen Einigungsprozess zu vertiefen, die Gemeinsamkeit in den zentralen Fragen der Außen-, Sicherheits-und Wirtschaftspolitik zu suchen. Wir brauchen nicht mehr EU, sondern bloß mehr Solidarität und weniger Egoismus. In der EU haben es aber viele offenbar noch immer nicht begriffen, was es heißt, gemeinsam zu agieren.

Als die Flüchtlingswelle auf Europa zurollte, gab es serienweise "Hilferufe", insbesondere das Verlangen nach einem akkordierten, von der EU-Spitze geleiteten Vorgehen. Weil man aber keinen Konsens fand, waren die davon am meisten betroffenen Staaten -und das waren nicht nur Deutschland und Österreich, sondern auch die Länder entlang der Balkanroute -auf sich allein gestellt. Stellte man Spitzenvertretern der EU die Frage, wo denn die Maßnahmen blieben, um geordnete Zustände zu schaffen, so hieß es immer nur, dass man ohnedies schon alles beschlossen habe, was notwendig sei, jetzt liege es nur noch an den einzelnen Staaten, das alles umzusetzen. Diese Umsetzung scheitert aber daran, dass die EU in vielen politischen Fragen kein wirkliches Durchgriffsrecht hat, auf den good will der Nationalstaaten angewiesen und machtlos ist, wenn kein Konsens zustande kommt. Ein Beispiel mehr dafür, dass das Prinzip der Einstimmigkeit abzuschaffen ist.

Nicht nur von Polen bis Ungarn schielen die Populisten, rechte wie linke, auf eine Mehrheit unter der Bevölkerung, die applaudiert, wenn man alle erdenklichen Vorurteile bedient, die sich in den letzten Jahren gegen die Politik des sogenannten Establishments aufgestaut haben. Die derzeit noch Regierenden finden offenbar kein Rezept, Klartext zu reden. Man macht es sich zu einfach, den Aufstieg von Le Pen bis Strache auf das Schüren von Ängsten gegenüber den Einwanderern aus fremden Kulturen zurückzuführen. Wir haben es generell mit einer gewissen Sprachlosigkeit, fehlender Argumentationsfähigkeit, ignorantem Verhalten der Regierenden gegenüber den Sorgen und Nöten breiter Bevölkerungskreise zu tun. Es sind, wie die Umfragen zeigen, längst nicht mehr nur die Wohlstandsverlierer, sondern es ist auch der Mittelstand, das tragende Element der europäischen Gesellschaft, der den Aufstand gegen die tradierte Politik probt.

Das Verdrängen der Notwendigkeit einer Europäischen Armee ist ein klassisches Beispiel dafür, dass man zwar dem sogenannten Boulevard Tribut zollt, es aber verlernt hat, in der Politik das zu tun, was man für richtig hält, und vor allem auch darum zu kämpfen, wenn notwendig, die Meinung in der Öffentlichkeit zu drehen.

Keine Neutralität für EU-Mitglieder

Die EU-Streitmacht ist ein Vorhaben, das ohnedies erst gegen Ende des nächsten Jahrzehnts realisierbar sein wird. Aber sie ist letztlich ein Eckpfeiler des europäischen Sicherheitssystems, in das sich alle EU-Staaten einbringen müssen. Auch Österreich muss sich dabei trotz aller Reliquienpflege bewusst werden, dass es für ein vollwertiges EU-Mitglied keine Neutralität geben darf, wenn es um Europa geht. Mehr noch: Man muss auch eine Führung akzeptieren. Das aber bedeutet, Vertrauen in jeden zu haben, der dieser europäischen Familie angehört und bereit ist, auch Verantwortung zu übernehmen. Einfach formuliert: Es heißt, Schluss mit dem Schrebergartendenken zu machen.

Ganz aktuell wird bei jeder Gelegenheit der Schutz der Außengrenzen -und zwar durch die EU -eingefordert, um wieder innerhalb der EU offene Grenzen zu schaffen. Dies auch im Wissen, dass die Flüchtlingswelle zwar eingebremst, aber noch lange nicht gestoppt ist und der nächste Tsunami sich in Afrika bereits aufstaut. Dank der hohen Technologie sind heute Seegrenzen fast schon besser zu schützen als Landgrenzen. Allerdings ist ein Land allein damit überfordert. Es bedarf daher einer gemeinsamen Anstrengung, um nicht die Griechen, die Bulgaren und die Italiener auf sich allein gestellt zu lassen. Nicht dass es nun vielleicht an Polizisten oder auch Soldaten mangeln würde, die aus anderen europäischen Ländern ans Mittelmeer abkommandiert werden -das eigentliche Problem liegt darin, dass es zum Beispiel dem Nationalstolz der Griechen widerspricht, wenn Polizisten aus einem fremden Land an ihren Grenzen Dienst machen. Obwohl Unterstützung vonnöten wäre. Dass es innerhalb der EU kein sogenanntes fremdes Land mehr geben dürfte, hat sich noch nicht wirklich herum gesprochen. Einmal mehr steht der nationale Eigensinn der gemeinsamen Kraftanstrengung im Weg.

Woran es mangelt, zeigt sich auch am Beispiel CETA. Sieben Jahre wurde dieses Vertragskonvolut verhandelt, aber in der Öffentlichkeit bestand und besteht bis dato faktisch ein Beinahe-Null-Wissen. Dabei gab es in Brüssel alles an Unterlagen, in den jeweiligen Landessprachen fertig gestaltete Broschüren, um den Bürgern verständlich zu machen, worum es bei diesem Freihandelsabkommen geht. Bloß haben diese Texte den Weg nicht an die Öffentlichkeit, zu den Bürgern geschafft. Sie wurden wie "Verschlussakte" gehandelt. Weil jeder nur auf den anderen wartete, dass etwas getan wird. Und offenbar auch nichts angefordert wurde, um das Informationsbedürfnis der Bürger zu stillen.

Und geschieht einmal etwas aus übergeordnetem europäischen Interesse, dann wird sofort Widerstand geleistet. So hatte die EU-Vertretung in Österreich eine objektive TTIP-Informationsbroschüre an die Schulen gesandt. Sie musste nach einer parlamentarischen Intervention ersatzlos zurückgezogen werden, weil die Grünen darin eine Propaganda sahen und das Unterrichtsministerium einer Diskussion aus dem Weg ging.

Defizite in Kommunikation und Marketing

CETA und TTIP sind freilich keine Einzelbeispiele. Vieles, was in der Öffentlichkeit an Geschichten, an Fehlmeinungen, an Vorwürfen über die Arbeit der EU-Kommission, des EU-Parlaments kursiert, hat seine Ursache in einer fehlenden Kommunikationsstrategie, einem mangelhaften Marketing und vor allem einem noch zu wenig ausgeprägten Gemeinschaftsbewusstsein.

Stattdessen wird Eigenbrötelei betrieben. Was nicht zuletzt mit der derzeitigen Struktur der EU zu tun hat. Im obersten Gremium, dem Rat, sitzen 28 Regierungschefs. Jeder hat seinen Pressestab, der darauf achtet, daheim möglichst gut dazustehen. Dann kommt die "Regierung" mit ihren 28 Kommissaren. Jeder hat seine eigene Presseabteilung, die nur das Ressort im Blickfeld hat. Dann gibt es das Parlament mit 751 Abgeordneten -von denen fast jeder seinen Pressesprecher hat, dessen Aufgabe es ist, seinen Mandatar bestmöglich daheim zu verkaufen. Und hat einer dieser Parlamentarier vor allem das EU-Interesse im Visier und nicht heimatliche Befindlichkeiten, dann wird er mitunter wie ein Außenseiter behandelt. Ganz am Schluss gibt es dann noch 28 Regierungen, gewissermaßen das ausführende Organ der EU. Dort ist oft noch nicht angekommen, dass es die alte Innenpolitik eigentlich gar nicht mehr gibt, sondern dass sie von der Europapolitik längst abgelöst wurde.

Vor Jahren war es Usus, dass man von den Bundesländern auf den Wasserkopf Wien schimpfte, wenn einem irgendetwas nicht passte. Heute schiebt man von Österreich die Schuld auf Brüssel ab. Und das ist in allen übrigen EU-Staaten ähnlich.

Der Autor, ehemaliger Pressesprecher von Alois Mock, ist Publizist und Politikberater

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