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Digital In Arbeit

Schreiben zwischen den Fronten

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„Die Reiterarmee“ - Das erzählerische Hauptwerk Isaak Babels in neuer deutscher und unzensierter Übersetzung.

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„Die Reiterarmee“ - Das erzählerische Hauptwerk Isaak Babels in neuer deutscher und unzensierter Übersetzung.

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Das Unbeschreibliche beschreiben, keine geringere Aufgabe hatte sich der 1894 in Odessa als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie geborene Isaak Em- manuilovič Babel gestellt. Dort wo das Leben zu Hölle wird, beginnt seine Arbeit des Schreibens, in unerbittlicher Genauigkeit und Detailtreue, die ihm 1940 unter Stalin sogar das Leben kosten sollte. Niemand besaß die Gabe des Sehens so wie er, schrieb schon Elias Canetti nach einer Begegnung mit dem russischen Schriftsteller, und nur bei wenigen bedeutenden Schriftstellern diktierte die Sprache so ihr Leben - und nicht umgekehrt.

Der russisch-polnische Krieg von 1920, in der Weltgeschichte heute nur mehr eine Fußnote und am Rande behandelt, wurde für ihn zur Lebensschule schlechthin. Der aufgeklärte Jude und Intellektuelle Babel kommt mit dem Feldzug des sowjetischen Generals Budjennyj nach Galizien, in das Land der „Wasserträger Gottes“ (Manės Sperber), der „Wunderrabbis von Berditschew“ (Martin Buber) und der „Verlorenen Heimat“ Joseph Roths. Ein Land, „gesättigt von der blutigen Geschichte der jüdisch-polnischen Ghettos und der Pogrome an den Juden“.

Babel protokolliert mit sprachlicher Perfektion die barbarische Kulturvernichtung an Mensch und Natur: „Ich. trage Trauer um die Bienen. Verheert sind sie von feindlichen Armeen. In Wolhynien gibt es keine Bienen mehr“ {Auf dem Weg nach Brody), seine Gefühle schwanken zwischen den Fronten, seine politische Überzeugung erleidet deutliche Risse angesichts des Grauens und der .sinnlosen Zerstörung im Namen der Revolution.

„Die Reiterarmee“, das erzählerische Hauptwerk des Autors, (Konar- mija 1926), eine Sammlung von Erzählungen aus seinen Tagebuchaufzeichnungen (1920), seiner Kriegserlebnisse in Ostgallizien, ist mm in einer neuen Übersetzung von Peter Urban zum hundertsten Geburtstag des Dichters neu und erstmals unzensiert in deutscher Sprache erschienen. „Die Frage nach dem Wahrheitsgehalt begleitet Babels Reiterarmee seit Erscheinen der ersten Texte, 1923, bis auf den heutigen Tag“, wie Peter Urban in dem Band vermerkt, es ist ein Tagebuch des Schriftstellers, der nichts als die Wahrheit schrieb, und sei sie auch noch so schrecklich.

„Ein schreckliches Ereignis“- eines von vielen, spielt sich vor Babels Augen im Städtchen Berestetschko ab, wo die Polen die mehrheitlich jüdische Bevölkerung terrorisieren, bevor die sowjetischen Befreier („Judenfresser und Plünderer auch sie) einrücken, um ihrerseits die katholische Kirche zu schänden: „…sie zerfetzten die Ornate, kostbare glänzende Stoffe sind zerissen… die Truhen aufgebrochen, die Bullen herausgerissen, das Geld geraubt, ein herrliches Gotteshaus - 200 Jahre alt…“ Babels Blick fällt auf die Schattenseiten des Lebens, wie Urban resümiert, in die Schlachthöfe und Leichenhallen, seine Aufmerksamkeit gilt den Opfern, der leidenden Zivilbevölkerung, den Gefangenen des Gegners, den Pferden, den Bienen. Jeder Satz ist Provokation, Anstoß zum Denken und zur Erinnerung an das, was war, und an das, was im Namen der Zukunft geschehen ist.

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