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Die Geschichten des Isaak Babel

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BUDJONNYS REITERARMEE UND ANDERES. Das erzählende Werk von Isaak Babel. Walter-Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau. 311 Seiten. Preis 14.80 DM. ZWEI WELTEN. Die Geschichten des Isaak Babel. 46 Erzählungen. Verlag Kurt Desch, Wien-München-Basel. 355 Seiten. Preis 14.80 DM.

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BUDJONNYS REITERARMEE UND ANDERES. Das erzählende Werk von Isaak Babel. Walter-Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau. 311 Seiten. Preis 14.80 DM. ZWEI WELTEN. Die Geschichten des Isaak Babel. 46 Erzählungen. Verlag Kurt Desch, Wien-München-Basel. 355 Seiten. Preis 14.80 DM.

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Auf der Moldovanka, in dem berüchtigten, armseligen Judenviertel von Odessa, wurde Isaak Emmanuelewitsch Babel als Sonn eines strenggläubigen Teppichhänd- lers geboren. Bis zu seinem 15. Lebensjahr war der kleine Talmudschüler in der strengen Welt des Chassidismus mit Bibel, Talmud und Hebräisch geborgen. Die Höhere Handelsschule, die er später besuchte, wurde als Erholung empfunden. Dort lernte er auch Französisch und fand einen solchen Gefallen an der Sprache, daß er begann, kleine Geschichtchen im Stil und in der Sprache Maupassants aufzuschreiben. Er kommt nach Kiew, Saratow und Petersburg, um dort zu studieren. Seit 1915 bietet er seine Geschichten den Zeitungen an. Im Jahr darauf lernt er Maxim Gorkij kennen, der seine literarische Entwicklung lenkte und bis zu seinem Tode (im Jahre 1936) schützend die Hand über Babel hielt. Bald sollte er dieses Schutzes dringend bedürfen …

Über die folgende Lebensphase schreibt Isaak Babel:

„VOM 1917 bis 1924 trieb ich mich unter den Leuten herum. Ich war Soldat in Rumänien, arbeitete im Volkskommissariat für Beschaffungswesen, in den Freiwilligenexpeditionen 1918, in der Nordarmee gegen Judenitsch, in der ersten Reiterarmee und im Gouvernementskomitee in Odessa, ich war Reporter in Petersburg und in Tiflis und so weiter. Und erst 1923 hatte ich gelernt, meine Gedanken klar und nicht zu umständlich auszudrücken. Da fing ich wieder an zu schreibenᾠ”

Kurzum: Babel, der kleine Mann mit der Brille auf der Nase und dem Herbst im Herzen, geriet in die Revolution, in Budjonnys Reiterarmee, als deren begeisterter und eifriger Apologet.

Man muß sich das vorstellen, nach den furchtbaren Pogromen, die seit 1881 immer wieder in Rußland aufflammten und von denen die schlimmsten, 1903 und 1905, in Odessa stattfanden und in dem Kind einen grausigen Eindruck hinterließen. Als die schlimmsten Judenfeinde galten die Kosaken — nun war er selbst einer von ihnen! Nach der Düsternis und Enge des Ghettos öffnet sich ihm die „freie Welt”. Und die rote Revolution war die Befreierin von diesem schimpflichen Dasein — und von der Todesfurcht. So meinte er. Und so sieht er die Revolution und ihre Helden ganz im romantischen Licht, auch noch in ihren Verzerrungen, und er bewundert die Kosaken, die ehemaligen Todfeinde, ihre barbarische Vitalität, ihre Schlächtereien, die sie anrichteten, ihren wüsten Charme. Er meint, selbst einer von den Ihren zu sein, und bemüht sich, die historische Notwendigkeit der Revolution, auch ihrer Schrecknisse, zu verstehen.

Babel begleitete die Reiterarmee des Generals Budjonny und schrieb auf, was er sah. Damit glaubte er der „guten Sache” den besten Dienst zu erweisen.

Als seine tagebuchartigen Aufzeichnungen als Buch erschienen, erklärte Budjonny das

Lebensgefahr. Aber Gorkij interveniert, man sagt: an allerhöchster Stelle, bei Stalin, anläßlich eines Banketts. Und Babel geschieht nichts, ja man läßt ihn sogar nach Frankreich gehen, wo er sich in Paris niederläßt und wieder französisch zu schreiben beginnt. Im Land seiner Idole Flaubert und Maupassant verlebt er eine glückliche Zeit. Darnach kehrt er nach Rußland zurück und lebt, gemeinsam mit einem Freund, in einer der ländlichen, etwas abgelegenen Straßen Moskaus.

Nach Maxim Gorkijs Tod ist er, wie viele jüngere Sowjetschriftsteller, von panischer Angst ergriffen. Sie haben ihren Schutzgeist, den mächtigen, unantastbaren Mann, verloren. Über Babels weiteres Schicksal ist nichts Genaues bekannt, im Unterschied zu dem von Jessenin und Majakowsky (die durch Selbstmord endeten), von Samjatin (der emigrierte), von Fedin und Leonow (die verstummten), von Boris Pilnjak (der umgebracht wurde) und schließlich von Katajew und Ehrenburg (die sich anpaßten und weiterleben durften). Das war die wirklich „verlorene Generation” einer Literatur, die zwischen 1920 und 1930 merkwürdige Blüten trieb. Isaak Babel wurde wahrscheinlich schon 1938 oder 1939 verhaftet, zunächst wie der freigelassen, 1940 erneut festgenommen und in ein sibirisches Lager gebracht. Dort ist er, wahrscheinlich 1941, also im Alter von 47 Jahren, gestorben ᾠ 1954, auf dem Zweiten Sowjetischen Schriftstellerkongreß, wurde Babel feierlich rehabilitiert, 1957 erschien in der UdSSR eine (wie man hört: purgierte) Neuausgabe seiner Schriften.

Die Prosa Isaak Babels war dem deutschen Leser bisher so gut wie unbekannt. Nun sind, fast gleichzeitig, zwei Ausgaben erschienen. Die eine, im Walter- Verlag, enthält 30 Geschichten aus „Budjonnys Reiterarmee”, sechs Geschichten aus Odessa und sechs autobiographische Erzählungen, insgesamt also 42 Geschichten, die von Dimitrij Umansky und Heddy Pross-Weerth ins Deutsche übertragen wurden. Walter Jens schrieb ein kluges und instruktives Nachwort dazu. Die andere Ausgabe, im Desch-Verlag, enthält vier Geschichten unter dem Titel „Erwachen”, vier Geschichten aus Odessa, 36 aus der „Reiterarmee” und zwei mit dem Titel „Petersburg, Paris und ich”. Milo Dor und Reinhard Federmann sind die Herausgeber und Übersetzer sowie die Verfasser eines einfühlenden, temperamentvollen Kommentars. Der Leser hat die Wahl. Ihn erwartet eine erregende Lektüre, ein „existentielles” Erlebnis, die Begegnung mit Schreckbildern und Schönheiten besonderer Art. Er darf auf keine Schonung rechnen. Neben Sanftem und Zartem stehen schreckliche Szenen, Blasphemien und Zynismen, grausam-grelle Effekte, die sich der Phantasie wie glühende Eisen einbrennen. Die „beiden Welten”: das ist das alte Odessa, die Ghettowelt mit ihren frommen Festen und Bräuchen, von der Babel sein Leben lang nicht losgekommen ist, wie loyce von Dublin, wie Kafka von Prag, wie Chagall von Witebsk. Die andere Welt ist die der blutigen Revolution, ihr Rausch und ihre Ekstase, dargestellt von „dem kleinen Mann mit der Brille auf der Nase und dem Herbst im Herzen”.

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