6694048-1962_50_13.jpg
Digital In Arbeit

Theater der Entscheidung

19451960198020002020

HOMO VIATOR. Modernes christliches Theater. Mit einem Vorwort von Gabriel Marcel. Verlag Jakob Hegner, Köln. 432 Seiten. Preis 14.80 DM. — SCHAUSPIELE. Von Gabriel Marcel. Erster Band. Glock-und-Lutz-Verlag, Nürnberg. 418 Seiten. Preis 20 DM. - SONNENUNTERGANG. Von Isaak Babel. Walter-Verlag, Ölten und Freiburg im Breis-gau. 284 Seiten. Preis 19.80 DM. — Im Band „Homo Viator“ sind (olgende Stücke vereinigt: Paul Claudel: Der Tausch; Georges Bernanos: Die begnadete Angst; Gabriel Marcel: Ein Mann Gottes; Julien Green: Der Feind; T. S. Eliot: Mord im Dom; Reinhold Schneider: Der große Verzicht; Heinrich Boll: Ein Schluck Erde.

19451960198020002020

HOMO VIATOR. Modernes christliches Theater. Mit einem Vorwort von Gabriel Marcel. Verlag Jakob Hegner, Köln. 432 Seiten. Preis 14.80 DM. — SCHAUSPIELE. Von Gabriel Marcel. Erster Band. Glock-und-Lutz-Verlag, Nürnberg. 418 Seiten. Preis 20 DM. - SONNENUNTERGANG. Von Isaak Babel. Walter-Verlag, Ölten und Freiburg im Breis-gau. 284 Seiten. Preis 19.80 DM. — Im Band „Homo Viator“ sind (olgende Stücke vereinigt: Paul Claudel: Der Tausch; Georges Bernanos: Die begnadete Angst; Gabriel Marcel: Ein Mann Gottes; Julien Green: Der Feind; T. S. Eliot: Mord im Dom; Reinhold Schneider: Der große Verzicht; Heinrich Boll: Ein Schluck Erde.

Werbung
Werbung
Werbung

Nicht von ungefähr überwiegen die Franzosen in diesem Band, gibt es doch in Frankreich, allen Wandlungen und Verwandlungen zum Trotz, seit Generationen gepflegte und niemals abgerissene literarische und Bühnentraditionen. Auch heute sind es wieder Franzosen und Wahlfranzosen, die in der Entwicklung der modernen Bühne an der Spitze stehen, von einer breiten Basis aus schaffend. Eine derartige Basis, unter welcher wir eine größere Schicht von Menschen verstehen, der die zeitlosen ebenso wie die aktuellen Erfordernisse der Bühne selbstverständlich sind, besteht im deutschen Sprachraum vorläufig nur in Ansätzen. Das heißt, daß die tragende Schicht, aus deren Mitte die großen Einzelnen emporsteigen, in Frankreich mehr Volumen und mehr Energien hat als anderswo — dies wirkt sich aus, bis ins religiöse Theater hinein. Im deutschen Sprachraum ist der Bühnenautor, der, formal wie inhaltlich auf der Höhe der Zeit stehend, Weltgeltung erlangt, nicht erst heute (man denkt an Brecht, Dürrenmatt, Frisch) die erstaunliche Ausnahme — in Frankreich hingegen die mit Sicherheit zu erwartende Frucht einer Seinsform der Gesellschaft.

Das religiöse Theater nun, ursprünglich Ausgangspunkt allen Theaters, führt heute, wie auch aus dem vorliegenden Band hervorgeht, eine Sonderexiitenz, es ist — sofern man den Begriff religiös nicht allzu weit faßt oder gar auf das christliche Theater bezieht — von der Autorschaft her gesehen Sache einer verschwindenden Minorität. Die Namen gültiger Autoren, deren Stücke das Publikum zu absoluten christlichen Entscheidungen treiben, sind heute an den Fingern einer Hand herzuzählen. Faßt man den Begriff religiös jedoch im allerweitesten Sinn, im Sinn einer noch oder bereits wieder anerkannten Hierarchie humaner Werte, so ist ihm die überwältigende Majorität zugeordnet — bis hinein etwa in die letzte dramatische Verästelung eines Wildwesters, in dem zwar viel geschossen, immerhin aber noch, wenn auch zumeist im banalsten Sinn, zwischen Gut und Böse, und sei es in Schwarz-Weiß-Manier, unterschieden wird.

Die in „Homo Viator“ vorgelegten StUcke, haben (abgesehen von Bolls „Ein Schluck Erde“, einer in dünnen Allegorien sich erschöpfenden Konstruktion) das gemeinsame Kennzeichen, daß sie sublime geistige und seelische Probleme behandeln; ohne das Hauptgewicht auf sogenannte „Bühnenwirksamkeit“ zu legen, sind sie doch durchwegs mit einem sicheren Instinkt für die Bühne verfaßt, für eine Bühne, auf der nicht die spektakuläre Handlung, sondern der geistige Vorgang dominiert. Formal gesehen, ist das Epitheton „modern“ (außer in bezug auf Eliots „Mord im Dom“) eher irreführend und würde besser durch den Ausdruck „zeitgenössisch“ ersetzt. Insgesamt ist die Edition verdienstvoll, erweist sie doch auch für denjenigen, den die Problematik zeitgenössischen christlichen Theaters angeht, daß dieses nicht allein lebendig ist, sondern durchaus imstande, den Menschen der Gegenwart zu packen und mit dem Absoluten zu konfrontieren.

Gabriel Marcels „Schauspiele“ sind; „Die Trauerkapelle“, „Die zerbrochene Welt“, „Ein Mann Gottes“ (auch in „Homo Viator“ enthalten) und „Das Quartett in Fis“. Zwei weitere Bände, die auch auf dem Subskriptionsweg erreichbar sind, befinden sich in Vorbereitung und werden enthalten: „Der schmale Grat“, „Der Stachel“, „Das Ende der Zeiten“, „Das Zeichen des Kreuzes“ (Band II) und „Rom ist nicht mehr Rom“, „Die Wacht am Sein“, „Meine Zeit ist nicht die Eure“, „Wachset und vermehret euch“ (Band III).

Marcel, christlicher Existentialist und Gegenspieler Sartres, dessen wichtigste Werke seit Jahren in deutschen Ausgaben vorliegen („Homo Viator“ — zum Titel obengenannter Sammlung gewählt —, eine Philosophie der Hoffnung, Düsseldorf 1949; „Geheimnis des Seins“, Wien 1952; „Metaphysisches Tagebuch“, Wien-München 1955; „Der Mensch als Problem“, Frankfurt am Main 1956), ist breitesten Kreisen auch durch das 1957 im Paul-List-Verlag, München, herausgekommene Taschenbuch „Philosophie der Hoffnung“, zu dem Friedrich Heer ein erläuterndes Nachwort schrieb, zugänglich geworden. Die Beschäftigung mit seinen ebenso nobel wie unmißverständlich und kraftvoll vorgetragenen philosophischen und religiösen Gedanken gehört zu den beglückendsten Erlebnissen, die unsere zeitgenössische Geisteswelt zu vermitteln vermag. Ihm ist, wie die Lektüre seiner Schauspiele zeigt, die (weshalb eigentlich?) in Österreich noch keine Heimstatt gefunden haben, die Fähigkeit geschenkt, den Inhalt seiner Philosophie mit faszinierender Kraft lebendig auf die Bühne zu stellen. Die Vorlage seiner Stücke in deutscher Sprache darf als echtes Ereignis gewertet werden.

Ein Ereignis, wenn auch gänzlich anderer Art, ist die erstmalige deutsche Publikation von Isaak Babels Bühnenwerken „Maria“ und „Sonnenuntergang“, die jetzt, mit 23 Erzählungen, von denen 16 ebenfalls erstmalig deutsch vorgelegt werden, zu einem Band vereinigt, herauskamen. Babel, 1894 als Sohn eines jüdischen Händlers in Odessa geboren, 1941 im Zuge einer stalinistischen Säuberungswelle ermordet, 1954 vor dem sowjetischen Zweiten AHunions-Schriftstellerkongreß rehabilitiert, gehört zu den erregendsten und tragischesten Gestalten unter den Künstlern, die, der Ära der Revolution entwachsen, an deren Entwicklung scheitern mußten. Seine frühe Kindheit stand im Zeichen barbarischer Judenverfolgungen (das Wort Pogrom ist russischer Herkunft), deren sich die „allerchristlichsten Reußen“ schuldig machten, als Jüngling begegnete er Maxim Gorki, der sich seiner liebevoll annahm. Als Einundzwanzigjähriger wurde er Soldat, diente in Marschall Budjonnys legendärer Reiterarmee (die den Titel für den gleichnamigen, im Deutschen Taschenbuchverlag erschienenen Band großartiger Erzählungen hergab), schrieb Erzählungen und Dramen, die Erfolg brachten, bis die KPdSU begann, die Künste zu reglementieren. Babel sah die Revolution, die ihm unerhörte Erlebnisse vermittelte, genial auf eine Weise, die wir in Marc Chagalls Bildern wiederfinden. Sprachgewalt und Bilderreichtum der Sprache, im Getto und im Erlebnis des Chassidismus gekeltert, machten ihn, den die Oktoberrevolution als elementares Schauspiel faszinierte, zu einem der größten Dichter des Jahrhunderts, der, was immer er auch erlebt, unternimmt, erduldet und beschreibt, in tiefster Seelenmitte magischen und religiösen Mächten verbunden bleibt.

Auch in seinen Erzählungen, auch in seinen Dramen geht es um Entscheidungen, um Verhaltensformen der Seele. Die Entscheidungen werden oft an der feinen Grenze zwischen Kollektiv (im Geist des Gettos als Phänomen, in dem die Vielheit der einzelnen ein Ganzes bedeutet) und Individuum (das, durch die Revolution zunächst aus dem Getto befreit, zu sich selbst zu finden bestrebt ist, und einst, aus dem Glauben der Väter herausfallend, zn purem Individualismus finden wird) gefällt. Um so wichtiger, nicht allein des starken Erlebnisses seiner Kunst willen, sondern um die geistige Situation der Gemeinschaft, der er entwuchs, zu begreifen, ist heute das Studium seiner Werke. Österreichische Bühnen würden sich ein außerordentliches Verdienst erwerben, wollten sie Babels hier vorgelegte Schauspiele „Maria“ und „Sonnenuntergang“ erstmalig westlichem Publikum vorstellen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung