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Tiefe Meditation

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Mit dem Ausdruck „äthiopische Kirche“ ist hier jene koptische Nationalkirche gemeint, die 60 Prozent der Bevölkerung auf sich vereint und bisher im Kaiserreich den Anspruch erheben konnte, Staatsreligion zu sein. Sie ist aber nicht die einzige christliche Kirche des Landes: die 0,6 Prozent Katholiken und die 0,4 Prozent Protestanten spielen zahlenmäßig keine nennenswerte

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Mit dem Ausdruck „äthiopische Kirche“ ist hier jene koptische Nationalkirche gemeint, die 60 Prozent der Bevölkerung auf sich vereint und bisher im Kaiserreich den Anspruch erheben konnte, Staatsreligion zu sein. Sie ist aber nicht die einzige christliche Kirche des Landes: die 0,6 Prozent Katholiken und die 0,4 Prozent Protestanten spielen zahlenmäßig keine nennenswerte

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Rolle, zeichnen sich aber als aktive Minderheiten aus, die insbesondere im Schul- und Wohlfahrtswesen hervorragende Leistungen erbringen. Nach der äthiopischen Kirche fällt dem Islam bekenntnismäßig (mit fast 30 Prozent ,der Einwohner) der zweitwichtigste Platz zu. Außerdem gibt es noch etwa 50.000 Juden (Falaschas) und Anhänger v m Naturreligionen. Beachtenswert ist bezüglich der Verteilung der Konfessionen, daß die 14 Millionen Muselmanen vor allem auf die Gebiete von Eritrea und Ogaden konzentriert sind, die seit 13 Jahren um ihre Unabhängigkeit kämpfen.

Lehrmäßig gehört die äthiopische Kirche zu den monophysitischen Kirchen, die seit dem fünften Jahrhundert (Chalcedon 451) von der

Lehre der Gesamtkirche über die Natur Jesu — zumindest in den Formulierungen und in der Akzentuierung — abweichen. Es war gerade Kaiser Haile Selassie, der sich bemühte, die altorientalischen Nationalkirchen — neben Äthiopien auch die Syrer, Armenier, Inder und Kopten — enger an die übrige Orthodoxie heranzuführen und sie auch dem Dialog mit der katholischen Kirche zu öffnen.

Bei den jüngsten Vorgängen in Äthiopien überraschte die äthiopische Kirchenführung durch ein Memorandum, das sich scharf gegen die Vorstellungen der Militärs über eine neue Verfassung wendet. Abuna Teowoflos und die übrigen Mitglieder der Synode verurteilten darin vor allem, daß die koptische Kirche künftig nicht mehr Staatsreligion sein soll. Dabei beriefen sie sich auf ihren uralten Vorrang im Lande, der es nicht zulasse, die Kirche zu einer „Zuschauerin der öffentlichen Angelegenheiten“ zu machen. Indirekt sah man darin eine Unterstützung für den Kaiser, den bisherigen Schutzherrn der Kirche.

Doch dürfte es dem äthiopischen Klerus bei seinem Protest gegen die geplante Trennung von Kirche und Staat nicht zuletzt darum gehen, eine Enteignung jener ausgedehnten Ländereien zu verhindern, über die die Kirche verfügt. Dem niederen und mittleren Klerus war der Großgrundbesitzer Kirche schon längst ein Dom im Auge. Die Kirchenleitung hingegen kam ebensowenig mit Reformen einer Entwicklung zuvor, die nun über sie hinwegging. Nun besteht die Gefahr, daß nicht nur das Herrscherhaus, sondern auch die

Kirchenspitze zu jenen „inneren Feinden“ gezählt werden, die „den Weg zur Revolution“ versperrten. Der greise Kaiser vermied es jedoch, sein Land in einen Bürgerkrieg zu stürzen. „ln tiefer Meditation“ sah er unschlüssig ziu, wie ihm eins ums andere genommen wurde. Vielleicht mag dabei auch ein wenig die Einsicht mit im Spiel gewesen sein, daß keineswegs alles, was in seinen Händen war, zu Recht ausschließlich ihm gehörte. Wie sich die äthiopische Kirche verhalten wird, wenn ihr das gleiche Schicksal beschieden wird, bleibt abzuwarten. Beobachter sind der Ansicht, daß es der Kirche gelingen könnte, besonders die Landbevölkerung im Kampf gegen die neue Verfassung zu mobilisieren. Da sich zwei Drittel der Äthiopier zur Kirche bekennen, ist sie eine der einflußreichsten Einrichtungen des Kaiserreiches. Vielleicht zieht sie die Konsequenzen aus ihrer eigenen Verflechtung mit den Versämnissen des Kaiserreiches. Gerade der niedere Klerus der äthiopischen Kirche scheint in zunehmendem Maße zur Überzeugung zu gelangen, daß das Auf geben feudaler Herrschaftsstruk- turen der eigentlichen Aufgabe der Kirche in Äthiopien von Nutzen sein könnte.

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