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Geschickter Haile Selassie

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Beobachter haben es nie leicht gefunden, die politische Temperatur von Ereignissen in Äthiopien zu messen. Es hat jedoch den Anschein, als ob die Entwicklungen der vergangenen Wochen das Barometer nicht auf Sturm, sondern lediglich auf Veränderlich gestellt haben. Das kluge Nachgeben des Kaisers hat — zumindest vorläufig — eine blutige Revolution in diesem ältesten Staatswesen Afrikas verhindert.

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Beobachter haben es nie leicht gefunden, die politische Temperatur von Ereignissen in Äthiopien zu messen. Es hat jedoch den Anschein, als ob die Entwicklungen der vergangenen Wochen das Barometer nicht auf Sturm, sondern lediglich auf Veränderlich gestellt haben. Das kluge Nachgeben des Kaisers hat — zumindest vorläufig — eine blutige Revolution in diesem ältesten Staatswesen Afrikas verhindert.

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Was mit Unruhen in Addis Abeba und mit der Meuterei junger Offiziere in der Garnison Asmara begann, führte zum Rücktritt der Regierung, zur Verhängung des Ausnahmezustands und zum ersten Generalstreik in der Geschichte des Landes. Die meuternden Militärs erklärten sich jedoch dem Kaiser gegenüber loyal und scheinen es auch tatsächlich geblieben zu sein. Die Unruhen hatten ihre auslösende Ursache in der Unzufriedenheit von Armee und Bevölkerung mit den rapid steigenden Lebenshaltungskosten, für die allerdings nicht allein das „feudale“ Regime Äthiopiens verantwortlich ist. Vielmehr sind sie auch durch die Hungersnot im Gefolge der großen afrikanischen Dürre und durch die internationale Wirtschaftskrise bedingt. Die in 24 Punkte gegliederten Forderungen der Armee enthalten darüber hinaus das Verlangen nach größeren politischen Freiheiten und mehr Demokratisierung.

Zweifellos ist es der überragenden Persönlichkeit des Monarchen, der auch die Achtung der oppositionellen Kräfte genießt, zu verdanken, daß in Äthiopien zunächst Chaos und Gewalttätigkeit verhindert wurden.

Die Ereignisse haben nicht zum Sturz der Monarchie geführt, wirkten jedoch als Motor für eine raschere Modernisierung und Demokratisierung. Haile Selassie ernannte den Postminister Makonnen — seinerzeit ein Konkurrent Dr. Waldheims um den Posten des UN-Generalsekretärs — zum neuen Premierminister und beauftragte ihn mit der Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung. Der neue Regierungschef erklärte, daß diese Versammlung möglicherweise noch im Laufe dieses Monats zusammentreten werde, um eine grundsätzliche Verfassungsreform auszuarbeiten, durch die Äthiopien zu einer parlamentarischen Monarchie gemacht werden soll.

Der äthiopischen Nationallegende nach war der Begründer des äthiopischen Reiches, König Menelik I, ein Sohn der Königin von Saba und König Salomons. Der nach diesem Sohn Salomons benannten „salomonischen“ Dynastie gehört auch Kaiser Haile Selassie an.

Zuverlässige Quellen bezeugen die Existenz eines äthiopischen Reiches, des Reiches von Axum, im 3. Jahrhundert n. Chr. König Ezenas von Axum, der „Kaiser Konstantin Afrikas“, der in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts regierte, führte das Christentum als Staatsreligion ein. Durch die Ausbreitung des Islams wurde Äthiopien dann von der übrigen Welt isoliert. Es hat zahlreiche islamische Invasionen abgewehrt und ist bis heute eine christliche Insel im Meer islamischer Nachbarn geblieben.

Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts führte Menelik II, der bewußt den Namen des legendären Reichsbegründers angenommen hatte, Äthiopien aus seiner jahrhundertealten Isolation heraus. Er gründete 1883 die neue Hauptstadt Addis Abeba („Neue Blume“) und dehnte seine Herrschaft nach allen Seiten bis an die Grenzen des heutigen Äthiopien aus. 1896 kam es zum militärischen Zusammenstoß mit Italien, das mit Eritrea und Italienisch-Somaliland die Flanken Äthiopiens okkupiert hatte und das amharische Kaiserreich unterwerfen wollte. In der Schlacht von Adua — in der Nähe der alten Kaiserstadt Axum — wurden die Italiener im März 1896 vernichtend geschlagen. Dadurch hatte Menelik die Unabhängigkeit seines Reiches gerettet und ihm internationale Anerkennung verschafft.

Hatte Menelik begonnen, Äthiopien aus seiner Isolierung herauszuführen, so war es sein Nachfolger, Kaiser Haile Selassie, der es seinem Lande ermöglichte, Anschluß an die moderne Welt des 20 Jahrhunderts — in erster Linie allerdings auf außenpolitischem Gebiet — zu finden.

Äthiopien war ein mittelalterlich-feudales Reich, als Haile Selassie im Jahre 1916 die Regentschaft übernahm. Es war deshalb ein radikaler Schritt, als Äthiopien unter seiner Regentschaft 1923 dem Völkerbund beitrat.

Wenige Wochen nach seiner Thronbesteigung im November 1930 gab Haile Selassie seinem Land die erste geschriebene Verfassung seiner Geschichte.

1935 wurde Äthiopien das Opfer der verspäteten kolonialen Ambitionen des faschistischen Italien. Unter dem Einsatz einer erdrük-kenden Übermacht war den Italienern die „Tilgung der Schmach von Adua“ gelungen, so daß Mussolini nach dem Fall von Addis Abeba im Mai 1936 die Eingliederung Äthiopiens in das italienische „Imperium“ verkünden konnte. Nach der raschen Kapitulation der italienischen Truppen während des Zweiten Weltkrieges konnte der Kaiser schon 1941 in seine Heimat zurückkehren, wo ihm ein triumphaler Empfang bereitet wurde.

Schon in seinen jüngeren Jahren war Haile Selassie Reformideen gegenüber aufgeschlossen. Dennoch lasten auch heute noch Tradition und Vergangenheit schwer auf Äthiopien. Vor allem Adel und Kirche stemmen sich gegen die immer rascher rollenden Räder des Fortschritts. Die tiefreligiöse Landbevölkerung sieht im Monarchen noch heute den „Auserwählten Gottes“. Doch die Jugend, der städtische Mittelstand und die jüngeren Offiziere sind ungeduldig.

Überall in Afrika vollzieht sich der soziale Wandel in raschem, ja manchmal allzu raschem Tempo, und auch das amharische Kaiserreich wurde davon erfaßt. Gegen diesen Trend hat sich der Kaiser nie prinzipiell gestellt. Er wollte jedoch die bestehende Gesellschaftsstruktur nicht beseitigt sehen, sondern war bestrebt, innerhalb dieses traditionellen Rahmens ein allmählich immer größer werdendes Maß an Freiheit und Gleichheit zu gewähren. Den radikalen Elementen im Staat, vor allem den Studenten war das zu wenig und zu langsam. Für die adeligen Grundbesitzer, die um ihre Vorrechte bangten, ging der Kaiser zu radikal vor.

Zahlreiche Anschläge auf das Leben des Negus, Intrigen, Palastrevolten und Machtkämpfe innerhalb der führenden Familien zeigen, wie einsam der alte Kaiser geworden ist, dessen eigener Sohn, Kronprinz Asfa Wossen, in die Palastrevolte von 1960 verwickelt war. Damals hatte die kaiserliche Leibgarde während der Abwesenheit des Kaisers im Ausland einen Putschversuch unternommen. Die Armee jedoch blieb auch damals loyal, und Halle Selassie — rechtzeitig zurückgekehrt — konnte die Rebellion zerschlagen.

Zweimal wurde die Verfassung bisher revidiert, einmal anläßlich von Haile Selassies silbernem Krönungsjubiläum im Jahre 1955 und das andere Mal im Jahre 1966: Dem Premierminister — ursprünglich nur persönlicher Berater des Kaisers — und dem von ihm ernannten Kabinett wurden zunehmend mehr Rechte gegeben. Das Wahlrecht wurde reformiert und die Mitglieder des Abgeordnetenhauses werden nun in allgemeinen gleichen Wahlen gewählt. Nach wie vor bestellt aber der Kaiser den Premierminister, der ihm allein verantwortlich ist.

In einem Land mit so starken traditionellen Bindungen wie Äthiopien lassen sich Neuerungen nur schwer durchsetzen. Die ökonomische Basis ist fast ausschließlich die Landwirtschaft. Aber Kunstdünger und moderne landwirtschaftliche Geräte sind unbekannt. Äthiopien ist fruchtbar und hätte durchaus das Potential, zu einem der bedeutendsten Lieferanten landwirtschaftlicher Produkte für Afrika und den Nahen Osten zu werden. Bisher jedoch hat Äthiopien noch nie die in den Fünfjahrplänen gesteckten Ziele erreichen können. Die Landreform ist somit das vordringlichste innenpolitisches Problem des Landes.

Haile Selassie, konservativ und aufgeklärt in seiner Innenpolitik, scheut auf außenpolitischem Gebiet keineswegs Kontakte mit Ideologien, die der seinen entgegengesetzt sind. Er pflegt freundschaftliche Beziehungen zu den USA — von denen der Großteil der Entwicklungshilfe für Äthiopien kommt' — und Westeuropa, wie auch zu Moskau und Peking. Letztgenannten Kontakt pflegt er, wie seine Kritiker sagen, nicht zuletzt, um eine rotchinesische Unterstützung für die Dissidenten in Eritrea zu verhindern.

Der Kaiser hat stets ein ungewöhnliches diplomatisches Geschick bewiesen. Trotz seines hohen Alters unermüdlich reisend, ist er heute der unbestrittene Sprecher Afrikas in der Welt. Sein Traum, Addis Abeba zur „Hauptstadt“ Afrikas zu machen, ging in Erfüllung, als er im Jahre 1963 die Gründungskonferenz der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) nach Addis Abeba einlud, wo sich seither der Sitz dieser Organisation befindet.

Seine diplomatische Gewandtheit stellte der Kaiser auch in der letzten, schwersten Krise wieder unter Beweis. Seine vorsichtigen Äußerungen während der vergangenen Wochen deuten die Richtung an, in die Äthiopien in nächster Zukunft gehen dürfte, zumindest, wenn sich die radikaleren Kräfte im gegenwärtigen Wandlungsprozeß nicht doch noch durchsetzen. „Jeder effektivere Weg zur Führung des Landes“ sei ihm willkommen, sagte der Kaiser in einem kürzlieh internationalen Pressevertreter gewährten Gruppeninterview. Dabei müsse Äthiopien aber aus den Erfahrungen anderer afrikanischer Länder, die vom Mehr- zum Einparteiensystem übergegangen seien, die richtigen Lehren ziehen. Auch habe sich die Monarchie in Äthiopien als einigende Kraft erwiesen.

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