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Sorgen um „Groß-Somaliland“

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Am 2. Dezember 1960 soll im Sinne eines UNO-Beschlusses von 1949 das gegenwärtig von Italien treuhänderisch verwaltete Gebiet des Somalilandes unabhängig werden. Mit sehr gemischten Gefühlen sieht man im UNO-Palast am East River in New York diesem Zeitpunkt entgegen, und man verhehlt sich keineswegs, daß hier eine Reihe schwerer Probleme in der Entstehung begriffen ist.

Das „Horn Ostafrikas“, das ist die vom Indischen Ozean bespülte nordostafrikanische Küste vom Golf von Aden bis zur britischen Kolonie Kenia, wurde bereits 1889 von den Italienern besetzt. Versuche derselben, von dort und von ihrer am Roten Meer gelegenen Kolonie Eryträa aus unter Einschluß Abessiniens ein großes ostafrikanisches Imperium zu bilden, scheiterten zunächst. Bei Adua brachte am 1. März 1896 Kaiser Menelik II. von Abessinien den Italienern unter General Baratieri eine vernichtende Niederlage bei; nicht weniger als 10.000 Mann an Toten verloren sie damals. Erst der neuerliche Ansturm des faschistischen Italiens in den Jahren 1935/36 vernichtete die Selbständigkeit Abessiniens und schuf unter Einschluß Eryträas und des italienischen Teiles des Somalilandes Italienisch-Ostafrika (Africa Orientale Italiana) Im zweiten Weltkrieg ging dieses Imperium dann wieder verloren; während Abessinien die Selbständigkeit wiedererlangte und ihm Eryträa durch UN-Beschluß von 1950 am 15. September 1952 als autonomer Teil angegliedert wurde, wurde Italienisch-Somaliland bereits 1941 von iert Briten besetzt und stand bis 1949 unter deren Militärverwaltung.

In diesen Jahren versuchte nun Ernest Bevin, der Amtsnachfolger Anthony Edens als britischer Außenminister, den Somalis, die verstreut außer in dem besetzten, früher italienischen Gebiet noch teils unter britischer, teils unter französischer und abessinischer Herrschaft lebten, eine Einigungs- und Einheitsidee einzupflanzen, um sie dann dereinst geschlossen in das britische Empire zu überführen. Aber auch dieser Plan mißglückte in dem Moment, als die UNO 1950 beschloß, die frühere italienische Kolonie Somaliland bis zum 2. Dezember 1960 der italienischen Treuhandverwaltung zu unterstellen. Allerdings, der in den Somalis einmal geweckte Gedanke, sich über alle Grenzen hinweg mit ihren Stammesbrüdern zu vereinigen, verschwand nie mehr.

Die Italiener haben in den abgelaufenen neun Jahren ihrer Verwaltung sehr viel für das Land getan. Sie haben an den Flüssen Juba und Webe Schebeli Musterstationen für Ackerbau und Viehzucht sowie genossenschaftliche Organisationen für die Eingeborenen gegründet und das Schulwesen ausgestaltet, das allerdings von ägyptischen Lehrern beherrscht wird, welche die Ideen Nassers eifrig propagieren. Die Grundschule wird heute bereits von 25.000 Schülern besucht. Als Landessprache dient das Suaheli.

In Mogadischo, dem Haupthafen Somalias, der 74.000 Einwohner zählt, residiert der italienische Hochkommissar Anzilotti (zuvor Botschafter in Wien), und hier befinden sich auch die Büros der zwei großen, das Land beherrschenden politischen Parteien, der „Jung-Somali-Liga“ unter Mohammed Issa, die sich mit der Selbständigwerdung des italienischen Teiles des Somalilandes zufrieden gibt, und der „Groß-Somali-Liga“ unter Hadschi Mohammed, eine! früheren Ansagers bei Radio Kairo, die heftig nach der Befreiung der „geknechteten Brüder“ in Britisch- und Französisch-Somaliland sowie in der äthiopischen Provinz Ogaden ruft. Um mehr Zulauf zu haben, bezeichnet sich Hadschi Mohammed als einen Nachkommen des „tollen Mullah“, Mohammed Ihn. Abdallah, der um die Jahrhundertwende den Briten und Italienern schwer zu schaffen machte. Gegenwärtig befindet er sich allerdings in Schutzhaft.

Von Seiten der Nachbarn wird das Problem „Groß-Somaliland“ recht unterschiedlich betrachtet. Der englische Kolonialminister Lennox-Boyds erklärte bereits im Februar vergangenen Jahres, er überlasse es dem Parlament des britischen Somalilandes, das mit rund 176.000 Quadratkilometern, 650.000 Einwohnern und der Hauptstadt Berbera (30.000 Einwohner) gegenüber der britischen Kronkolonie Aden liegt, selbst darüber zu entscheiden, ob es die Vereinigung mit Somalia anstrebe oder nicht. Auch Frankreich, dessen Somaligebiet 21.700 Quadratkilometer umfaßt und 64.000 Einwohner, davon nur 40 Prozent Somalis, zählt, wäre ursprünglich bereit gewesen, den Anschluß desselben an Somalia zuzulassen, seitdem sich aber das Land im vergangenen Herbst anläßlich der Wahl eindeutig zum französischen Mutterland bekannte, hat sich die Situation wesentlich geändert. Im Juli 1959 erschien de Gaulle in der Hauptstadt Dschibuti (31 000 Einwohner), dankte der Bevölkerung und erklärte: „Hier sind wir und hier bleiben wir.“ Von Dschibuti führt übrigens die wirtschaftlich ungemein wichtige Bahnlinie nach Abessiniens Hauptstadt Addis Abeba, auf der sich fast der ganze Import und Export dieses Landes abwickelt. Frankreich will in der nächsten Zeit der Regierung des Negus im Hafen von Dschibuti weitgehende Rechte einräumen.

Aber die letzte Entscheidung über den Umfang Groß-Somalis liegt in den Händen Abessiniens, ohne dessen südöstliche Provinz Ogaden der neue Staat gar nicht lebensfähig wäre. Auf den riesigen Steppen Ogadens weiden die Somalihirten seit Jahrhunderten ihre großen Vieh- und Straußherden, wofür sie auch heute noch dem christlichen Gouverneur der abessini-schen Stadt Harar Tribut zahlen. Die Abessinier sind aber durchaus nicht bereit, zugunsten Somalis auf ihre Provinz Ogaden zu verzichten. Als „von Kairo gespeiste Haschischträume“ bezeichnet Abessiniens Delegierter bei der UNO, Zawde Hiywot, die diesbezüglichen Wünsche der Somalis, wobei ihm der französische Außenminister Couve de Murville durchaus beipflichtet. Im Gegenteil — die Regierung des Negus Negesti Haile Selassie I. hofft, daß das somalische Küstengebiet dereinst Abessinien zufallen wird, wodurch dann der bisherige große Binnenstaat auch zu einer einflußreichen Küstenmacht werden könnte. „Die Somalis sind Abessinier, sie sind unsere Brüder; warum sollten sie nicht mit uns einen Staat schaffen?“ So sagt man in Addis Abeba.

Das also sind die Gründe, warum man in den UNO-Kreisen New Yorks mit Bangen dem 2. Dezember 1960 entgegensieht, und die Situation wird dadurch nicht erleichtert, daß Mohammed Isa, der Führer der „Jung-Somali-liga“, der gerade jetzt dort weilt, die Mandatskommission ständig daran erinnert, daß die Zeit für den Westen in Somalia rasch ablaufe.

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