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Nostalgie nach dem Negus

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Der Fußmarsch vom zentralen „Ethiopia-Hotel“, das trotz Verstaatlichung das Niveau seiner bis 1975 griechischen Besitzer halten konnte, zu einem der Stadthügel von Addis Abeba, die noch „ganz kaiserlich“ Paläste, Kuppelkirchen oder Spitäler, benannt nach Prinzen und Prinzessinnen, krönen, ist ein rechtes Spießrutenlaufen. Als erste lauern einem die Schuhputzer- und Zeitungsjungen auf, von denen erstere die auf dem von „ausländischen Kapitalisten befreiten“ Markt vergriffene Stiefelwichse durch um so kräftigeres Reiben zu ersetzen suchen. Die flinken Kolporteure rufen neben dem „Ethiopian Herald“, der seinen Chefredakteur Tesfaje Habte Jimer und damit ein gewisses Format aus vorrevolutionärer Zeit beibehalten konnte, und dem amharischen „Addis Zaman“ (Neue Zeit) noch eine Reihe westlicher Publikationen neuesten Datums aus, wie man das in totalitären, zensurbeflissenen Regimen der Dritten Welt sonst nicht gewohnt ist. Auch hinsichtlich der Einreise von Auslands Journalisten herrscht unter Staatschef Taffari Banti die schon von Haile Selassie I. geübte Freizügigkeit weiter: Korrespondenten erhalten unbesehen ihr Visum, sofern sie nur eine Flugkarte für die Rückreise vorweisen können und das Informationsministerium, noch immer Untermieter im 7. Stock der „Berhan-(Das-Licht)“-Druckerei, somit sicher sein darf, sie wieder los zu werden.

Dem ersten Schub äthiopischer Straßenbekanntschaften folgen

Korbflechter, Postkarten- und Devotionalienkrämer, die auch nach bald zwei Jahren revolutionärer Ära ihre silbernen Handkreuze und Miniaturikonen anpreisen. Vorübergehend hatten sie sich „aufklären und bessern“ lassen, hatten Abzeichen mit der Revolutionsparole „Itjopija tiqdem (Äthiopien zuerst)“ anstelle des „reaktionären Krams“ verkauft, doch waren ihre Umsätze dabei katastrophal zurückgegangen. Das heute so große Angebot von religiösem Kitsch, aber auch von richtigem Kunsthandwerk in den Straßen von Addis Abeba ist übrigens eine Folge der „Entfeudalisierung“ der äthiopischen Kirche. Die in zahlreichen Klöstern zu Hunderten zusammengedrängten koptischen Mönche können nach Wegnahme ihrer Felder, Weiden und Waldungen nur durch Handarbeit dem Verhungern entgehen.

Auf halber Höhe der Bergstraße zur „Piazza“ — der seit den Benzinrationierungen (15 Liter pro Woche) nur von wenigen Autos befahrene Asphaltstreifen nennt sich großsprecherisch „Churchill-Avenue“ — läßt das Rudel der Bauchläden endlich locker. Dafür stehen junge Burschen in Blue Jeans und Rollkragenpulli im Weg, grüßen mit freundlicher Hartnäckigkeit (etwa: „Hailoh, ciao, welcome!“) und beginnen mitzulaufen. Ihrer beruhigend klingenden Selbstempfehlung „Wir wollen kein Geld, sind keine Bettler, sondern Studenten und möchten diskutieren“, kann man sich schwer verschließen, obwohl es in 2300 Meter Seehöhe eines festen Atems bedarf, um bei dem Gipfelsturm nach der Oberstadt von Adis Abeba auch noch politische Gespräche zu führen. Der „Studenten“ werden immer mehr, sie rühmen zunächst die Entmachtung und Enteignung der Dynar sten und Aristokraten und fuchteln grimmig nach dem Palast Kaiser Meneliks hinüber. Dort amtiert heute der noch immer von keiner Zivilregierung abgelöste „Provisorische Militärische Verwaltungsrat“. Aber auch mit den Leistungen dieses nach wiederholten Säuberungen Ende 1975 nur noch aus ein paar Dutzend seiner ursprünglich hundertzwanzig Deputierten bestehenden Offiziersund Soldatenrates sind die jungen Leute denkbar unzufrieden. Sie schimpfen über Teuerung, Arbeitslosigkeit und Verfolgung der „wirklich revolutionären“ Kräfte, worunter sie sich selbst und jenen Teil der

Offiziere verstehen, der heute nicht mehr am Leben ist. Hire lauten Beschwerden sind weithin zu hören, von Geheimpolizisten und anderen Bütteln jedoch keine Spur. Der Eindruck, daß es bei so ungehinderter öffentlichen Meinungsäußerung mit Unterdrückung und Terror nicht so schlimm sein kann, verfestigt sich später bei Vorsprachen in den verschiedenen Ministerien, wo höchste Beamte mit ihrer Kritik an den führenden Militärs nicht zurückhalten.

Inzwischen haben wir die „Piazza“ hinter uns gelassen und sind in die zentrale Geschäftsstraße eingebogen, die sich noch immer naeh dem Kaiser nennt, dessen Bilder übrigens auf Münzen, Banknoten und Briefmarken weiterhin prangt. Hier finden die „Studenten“, von denen inzwischen alle Fragen nach der näheren Art ihres Studiums offen gelassen wurden, an den neuen Verhältnissen etwas zu loben. Begeistert zeigen sie auf die blauen Sequestrierungsnummern an den hier vorwiegend italienischen, griechischen und armenischen Geschäften. Der jüdische Laden an der Ecke ist für sie ein .„böser Kapitalist“, nicht so der äthiopische Juwelier gleich daneben.

Äthiopiens gegenwärtige Führung, die sich aus der zweiten Revolutionsgarnitur nach der Ermordung des Generals Aman Andorn im November 1974 aus General Taffari Banti, Major Mengistu Haile Marijam und Major Atenafu Abate zusammensetzt, wird von den jugendlichen Kritikern der Vorwurf totaler Amerikahörigkeit gemacht. Die Militärs hätten die ursprünglichen Revolutionsziele der Gewerkschaften und Studenten verraten und seien heute reaktionärer als die alte kaiserliche „Clique“, der von vielen Äthiopiern schon wieder als den Symbolen der

„guten, alten Zeit“ nachgeweint wird.

Das ist natürlich Wasser auf die Mühlen der einstigen Prominenz, deren Reste sich in der äthiopischen Hauptstadt zäh behaupten. Zum Teil sind ihre Erfahrungen und Kenntnisse den neuen Machthabern derart unentbehrlich, daß sich Mitarbeiter und Vertrauensleute des Kaisers in vielen Behörden nach wie vor auf ihren Posten befinden.

Im eleganten Abendrestaurant „Lalibala“, benannt nach dem Ort mit den berühmten Felskirchen, der heute eines der Zentren des Widerstands provinzieller Feudalherren gegen das Militärregime und seine „Agrarrevolution“ ist, pflegen sich

diese Kreise ihr Stelldichein zu geben. Es sind vorwiegend selbstbewußte Amharen, die sich über die Gleichberechtigung der äthiopischen Muslims aufregen und den Ausbruch der Konterrevolution prophezeien.

Abgesehen von den „schimpfenden Pseudostudenten“, bei denen es sich hauptsächlich um junge Arbeitslose handelt, sind Hoch- und Mittelschüler beiderlei Geschlechts als Folge der zum Jahreswechsel 1974/75 angelaufenen „Zematscha“-Kampagne der Landverschickung in der Hauptstadt kaum anzutreffen. Das nur im engsten Familienkreis und unter Vermeidung jedes Aufsehens in Addis Abeba gestattete Begräbnis einer im fernen Illubabor den Strapazen dieses Arbeitsdienstes erlegenen Handelsschülerin gab Einblick in die Erbitterung der Eltern, Verwandten und der meisten „Zematschi“ selbst über die Bedingungen, die lange Dauer und die Sinnlosigkeit dieses Experiments.

Eine ähnlich negative Beurteilung des ganzen Landdienstes, bei dem die städtische Jugend den konserva-

tiven Bauern neben Lesen und Schreiben auch moderne landwirtschaftliche Methoden und vor allem die neue Frohbotschaft des „äthiopischen Sozialismus“ beibringen soll, findet sich unter den in Adis Abeba akkredidierten Diplomaten. Dennoch ist der Idealismus unübersehbar, mit dem viele der Zematschi allen Schwierigkeiten zum Trotz am Werk sind. Major Kiros Alemajehu, der vitale Chef der ganzen Zematscha-Kampagne, scheint überhaupt, unabhängig von Erfolgen oder Mißerfolgen, als Hauptziel im Auge zu haben, die junge Generation des multinationalen Äthiopiens über die sprachlichen und religiösen Differenzen hinweg zu einer gemeinsamen Kraft zusammenzufühen.

Neuerdings haben die Zematschis ihre Aktivitäten auch auf das Dirnenviertel von Addis Abeba, das berüchtigte Nefas Silk, mit dem Ziel einer sozialen Rehabilitierung der dort „arbeitenden“ Frauen und Mädchen ausgedehnt. Sie hätten damit aber auch im Zentrum der Stadt viel zu tun. Die meisten der Prostituierten befinden sich in einer echten Zwangslage und sind zu einem hohen Prozentsatz Flüchtlingsmädchen aus Erythräa.

Ansonsten bieten Addis Abeba und seine Umgebung das Bild einer widersprüchlichen Übergangssituation von bewährten, aber zu eng gewordenen Strukturen in eine neue Ordnung, die ihren Schwerpunkt noch nicht gefunden hat. Noch können Handel und Wandel von dem durch das alte Regime angelegten Reserven zehren, bald aber werden diese erschöpft sein. Nach wie vor eine Stärke Äthiopiens bleibt seine konservative Finanzpolitik, die sich wohltuend von den Experimenten auf dem Landwirtschaftssektor abhebt. Die allzu abrupte Umstellung der Bauern von patriarchalischen Produktionsgemeinschaften zu

Agrarkollektiven hat die Versorgungslage auch außerhalb der Hungergebiete angespannt werden lassen. Doch trotz der allgemeinen Unzufriedenheit zeichnet sich keine politische Alternative zur Herrschaft der Militärs ab.

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