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Die Kirche in Äthiopien

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Äthiopiens amharischsprachige Tageszeitung „Addis Semen“ hat in einem Leitartikel die Frage nach dem Stellenwert der Religion in einer sozialistischen Gesellschaft gestellt und bezeichnete dabei Religion als Relikt einer feudalistischen Gesellschaftsordnung. Das englischsprachige Blatt „Ethiopian Herald“ griff das Thema wenige Tage später ebenfalls auf und kritisierte aufwendige christliche Begräbnisriten in einem sozialistischen Staat. Noch sind beide Artikel Einzelerscheinungen. Im Zeichen des Schlagworts der Militärrevolution „Ethiopia Tikdem“ (Äthiopien voran) sieht sich jedoch auch die orthodoxe Kirche wachsender Kritik ausgesetzt — zweifellos eine Folge ihrer jahrhundertelangen Verstrickung mit der herrschenden Klasse, aus der sie sich nur mit Mühe herauszulösen beginnt. Ihren neuen Weg hat die orthodoxe Kirche bisher nicht gefunden.

Trennung von Kirche und Staat

So fehlen offizielle Stellungnahmen der Kirche zu den tiefgreifenden innenpolitischen Veränderungen auf der äthiopischen Bühne fast völlig. Kein Wort kam zu den Erschießungen im November vergangenen Jahres, die eine drastische Kursänderung der äthiopischen Innenpolitik begründeten, kein Wort zur Verstaatlichung des Grundbesitzes und zum jüngsten Schritt der Militärs, der Begrenzung des Wohnhausbesitzes, obwohl beides die Einnahmequellen der Kirche nahezu gänzlich verschüttet hat. Fachleute schätzen den Verlust der Kirche durch den Wegfall der Pacht- und Mieteinnahmen auf rund drei Millionen äthiopische Dollar. Eine offizielle Äußerung der Kirche war noch am 11. September 1974 erfolgt — einen Tag vor der Absetzung von Kaiser Haile Selassie. Der Patriarch von Addis Abeba, Abuna Teophlos, erklärte damals als Oberhaupt der rund 10 Millionen orthodoxen Gläubigen in Äthiopien, daß „Gott die revolutionäre Bewegung der Streitkräfte im Lande“ segne. Der Kaiser wurde mit keinem Wort mehr erwähnt. Etwa seit dieser Zeit sind Kirche und Staat voneinander getrennt. Der im August 1974

publizierte Verfassungsentwurf sagt in Artikel 22: „Unter Äthiopiern wird wegen Herkunft, Vermögens-, Religions- und Stammeszugehörigkeit kein Unterschied gemacht.“ Lediglich Artikel 9 hatte noch ein Stück Tradition retten wollen: „Der Kaiser muß sich zur christlichen Religion bekennen.“

Seit der Abschaffung der Monarchie im März dieses Jahres ist von der christlichen Tradition wenig mehr die Rede. Die Vertreter der „Volksbewegung“ sprechen nicht mehr von Religion, sondern von „Philosophie“, und diese Philosophie gibt sich mehr oder weniger marxistisch. In Kommentaren des staatlichen Radios und in Leitartikeln der vom Informationsministerium herausgegebenen Tageszeitungen wird dies der Öffentlichkeit fast täglich zum Bewußtsein gebracht. Freilich herrschen weder Kirchenkampf atmo-sphäre noch Christenverfolgungen. Typisch für die Situation ist vielleicht eine Bemerkung des Erziehungsministers Haile Gabriel Dagne: „Die Militärregierung ist nicht gegen die Kirche. Sie ist für die Masse. Da die Masse ihre Kirche liebt, kann die Regierung nie gegen die Kirche sein.“ Dies braucht sie um so weniger, als gerade Angehörige des mittleren und niederen Klerus ihre Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit an vernünftigen Sozialreformen offen zu erkennen gegeben haben; einige von ihnen haben sich mitreißen lassen vom revolutionären' Schwung des Militärs und dichten sogar, wie der Heidelberger Religionswissenschaft-ter Friedrich Heyer beobachten konnte, „im traditionellen Versmaß der Liturgie das Lob des sozialistischen Äthiopien“.

„Verkündigung“ des Sozialismus

Dies war kürzlich auch bei einem Seminar mit dem Thema „Kirche und Sozialismus“ zu vernehmen; nicht in Versform zwar, doch unmißverständlich: vor den 80 aus dem ganzen Lande zusammengerufenen Kirchenführern rief der Chefideologe des Militärrates, Major Atnafu Abate, dazu auf, religiöse Spannungen zu vergessen, und wies unter Berufung auf prominente Theologen darauf hin, daß sowohl die Bibel als auch der Koran die Ziele des äthiopischen Sozialismus unterstützten. Ergebnis des Seminars war eine Resolution von 45 Punkten, unter anderem die Bereitwilligkeit der Kirche, ihre Verkündigungsmöglichkeiten zu nutzen, um die neue Ideologie dem Volk verständlich zu machen und Aufrufe zur Unterstützung des regierungsamtlichen Sozialismus und zur Betonung des christlichen Gleichheitsprinzips zu erlassen.

Zumindest in Teilbereichen ist dieses Gleichheitsprinzip bereits wirksam geworden. Während bisher nur die fünf christlichen Hauptfeste als Nationalfeiertage galten, hat die äthiopische Militärregierung nun auch den etwa 12 Millionen Muslimen drei nationale Feiertage zugestanden, deren erster — der Geburtstag des Propheten Mohammed — am 25. März 1975 in Anwesenheit hoher Regierungsvertreter in Addis Abeba inzwischen begangen wurde. Es ist dies eine Maßnahme mit dem Ziel, die Kluft zwischen der orthodoxen Oberschicht und der bisher in wichtigen Positionen untervertretenen islamischen Bevölkerungsgruppe allmählich zu überbrücken. Bisher waren die Schaltstellen in Wirtschaft und Verwaltung fast ausnahmslos den Orthodoxen vorbehalten; noch bleibt abzuwarten, inwieweit die neue Regierung hier Änderungen zu schaffen vermag. Dem alten Regime ist jedenfalls die Eingliederung der meist nomadisierenden Muslimstämme in das äthiopische Staatsgefüge nicht gelungen.

Noch werden die 14 Bischöfe in den 14 Verwaltungseinheiten Äthiopiens mit einem Monatsgehalt von 1200 äthiopischen Dollar aus der Staatskasse entlohnt. Doch will der Staat wirklich religionsneutral sein, wird er wohl die Subventionen für sie und die rund 1000 Beamten der Xirchen-verwaltung zu streichen haben.

Die zunehmende Säkularisierung in den äthiopischen Städten sowie persönliche und theologische Rivalitäten innerhalb der Kirchenhierarchie erschweren die Probleme. Die ehemalige Staatskirche ist ins Spannungsfeld der Revolution geraten.

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