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Österreich ist ein Schlüsselloch, um in den Balkan hineinfunken zu können. DIE FURCHE: Der Brexit endet gerade im erwarteten Chaos. Wie wird das, was in Großbritannien zurzeit passiert, das Projekt Europa beeinflussen?

Guérot: Ich glaube, das wird Europa massiv beeinflussen. Die "Remain"-Fraktion hat natürlich gekämpft bis zum Umfallen. Aber ich bin seit zwei Jahren enttäuscht und entsetzt darüber, dass der politische Raum sich kaum warnend zu den Auswirkungen des Brexit zu Wort gemeldet hat. Da ging es nur noch um Pfründe und Fragen wie: Geht die City of London jetzt zum Teil nach Frankfurt und zum Teil nach Paris? Viele leugnen die Schockwelle weg, die durch den Brexit entsteht. Ich war zuletzt mehrfach in Großbritannien, auch jenseits von London. Man erkennt dort sofort, wie zerrissen die britische Gesellschaft heute ist. Viele Briten sagen inzwischen: Beim Mittagstisch mit der Familie sprechen wir nicht mehr über Politik. Wir sind also längst in dem Schema, das Aristoteles die "Idiotes" nannte: Es gilt, die Privatsphäre vor dem Öffentlichen zu schützen. Denn lässt man das, was im öffentlichen Raum verhandelt wird, ins Private, spaltet es den privaten Raum.

DIE FURCHE: Versuchen wir einen systemischproduktiven Abschluss: Therapievorschläge für den Patienten Europa? Guérot: Zunächst, raus aus dem "Weiter so" - das zentrale Element jeder Therapie. Es braucht genug Leidensdruck für den Willen zum Ändern von Verhaltensweisen. Und Therapie funktioniert über Selbsteinsicht und Eigenmotivation. Angewendet auf die EU: Zur Selbsteinsicht würde gehören, dass EU-Abgeordnete und Europäer der ersten Reihe in die Empathie gehen. Es reicht nicht zu sagen: Wir als EU sind die liberalen Demokraten und verteidigen uns mit Artikel 7 gegen die sogenannten Populisten. Sondern es gilt hinzuhören und die Frage auch mal umzudrehen: Was haben der EU-Binnenmarkt, die EU-Austeritätskrise und der Euro in seinem mangelhaften System dazu beigetragen, dass die so genannten Populisten heute nur noch "Weg von Europa!" schreien? Was haben wirtschaftliche Zentralisierungsprozesse der EU dazu beigetragen, dass Osteuropa entvölkert ist?

DIE FURCHE: Was haben sie dazu beigetragen?

Guérot: Ein Beispiel: Große Teile der bulgarischen und rumänischen Ärzte arbeiten heute in Berliner Krankenhäusern. Wenn wir also wollen, dass es in Rumänien noch gute Kinderärzte gibt, die auch gute Herzoperationen an Babies machen können, dann müssen wir etwas dafür tun. Wir können keine europäische Einheit schaffen, wenn wir Bürger zueinander in Konkurrenz setzen. Wenn wir "Bürger gegen Bürger" spielen. Wenn die gut Ausgebildeten - Stichwort "Brain Drain" - aus Andalusien oder Bukarest alle nach Berlin oder Brüssel gehen, weil sie da das Vierfache und mehr verdienen. Dass die dort Verbliebenen dann für populistische Rattenfänger empfänglich werden, wundert mich überhaupt nicht. Meint man es mit einer Therapie der EU ernst, wäre also etwas nötig, was nicht radikal, sondern nur konsequent ist: Nach Rechtsgleichheit für Güter und Kapital auch Rechtsgleichheit für Bürger.

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