Dschungel Thailand Maniq - © Khaled Hakami

Barfuß, behend, dem Untergang geweiht

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Wer sich heute mit Jäger und Sammler-Gesellschaften in entlegenen Weltgegenden beschäftigt, wühlt letztlich in unserer ureigensten Geschichte.

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Wer sich heute mit Jäger und Sammler-Gesellschaften in entlegenen Weltgegenden beschäftigt, wühlt letztlich in unserer ureigensten Geschichte.

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Um aktuelle Konflikte und Probleme zu verstehen, meint der Historiker Yuval Noah Harari, "müssen wir uns die Welt der Wildbeuter ansehen, die uns ihren Stempel aufgedrückt hat, denn das ist die Welt, in der wir unbewusst bis heute leben". Manche Forscher gehen davon aus, dass uns der nomadische Lebensstil in der Steinzeit sowohl körperlich als auch geistig stark geprägt hat. "Die letzten zwei Jahrhunderte, in denen wir unsere Brötchen als Arbeiter und Angestellte verdienen mussten, und die zehn Jahrtausende davor, in denen wir uns als Bauern und Hirten durchgeschlagen haben, sind nur ein Wimpernschlag im Vergleich zu den Hunderttausenden von Jahren, in denen unsere Vorfahren jagten und sammelten", schreibt Harari in seinem Bestseller "Eine kurze Geschichte der Menschheit"(DVA, 2013).

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Khaled Hakami ist jemand, der aus nächster Nähe von einer der letzten Jäger-und Sammlergesellschaften berichten kann. Der gebürtige Linzer forscht am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien und hat viele Monate bei den Maniq in Südthailand gelebt. Das ist ein nomadisches Volk, das noch weitgehend unberührt im tropischen Regenwald lebt -und dessen archaische Kultur von der modernen Gesellschaft etwa so weit entfernt ist wie die Gegenwart von der Steinzeit. Feldforschung heißt in diesem Fall pures Dschungel-Abenteuer: das Vertrauen der Gruppe gewinnen, direkten Kontakt herstellen, am Alltag teilnehmen. Die Maniq ziehen durch den Wald und schlafen unter Schirmen aus Blättern. Fleisch, Früchte und Knollen stehen auf ihrem Speiseplan, ohne Soßen oder Gewürze.

Feldforschung als Dschungel-Abenteuer

"Vieles ist zunächst ekelhaft, aber man gewöhnt sich daran", berichtet Hakami im Gespräch mit der FURCHE. "Man bekommt Affenblut zu trinken oder sieht, wie die Därme der Affen ausgedrückt werden, bevor sie auf der Feuerstelle gebrutzelt werden." Die Jäger bewegen sich barfuß und mit hölzernen Blasrohren durch das Dickicht. Wenn sie zurückkommen, legen sie ihre Beute ab; das Häuten, Zerteilen und Zubereiten übernehmen andere Personen. Auch Kinder hantieren mit Messern, denn sie gelten bereits als kleine Erwachsene, bemerkt Hakami: Wer die fremde Welt der Maniq zu erkunden versucht, entdeckt rasch, dass das Konzept der Kindheit dort gar nicht existiert. Man sollte sich daher auch nicht wundern, wenn man Kleinkinder an einer Zigarette ziehen sieht.

Je komplexer eine Gesellschaft, desto länger die Ausbildungswege: Im Zeitalter der Digitalisierung hat nun überhaupt das Leitbild des "lebenslangen Lernens" Einzug gehalten. Bei den Maniq hingegen haben Kinder im Volksschulalter weitgehend ausgelernt. Sie haben alle Fertigkeiten erworben, die man zum Überleben braucht. Und damit begnügen sie sich auch: "In ein paar Stunden ist die Arbeit des Tages erledigt", weiß Hakami. Das deckt sich mit dem Befund von Harari, wonach die prähistorischen Jäger und Sammler "ein sehr viel angenehmeres Leben führten als die meisten Bauern, Schäfer, Landarbeiter und Büroangestellten, die ihnen folgten". Den Großteil des Tages herumzuliegen und müßig zu sein: Aus Sicht einer hyperaktiven, rundum beschleunigten Gesellschaft wirkt dieser Lebensstil höchst befremdlich.

Doch die thailändischen Ureinwohner leben so unmittelbar, dass das Streben nach einer technischen oder kulturellen Weiterentwicklung offenbar gar keinen Platz hat. In ihrer Sprache gibt es weder Vergangenheit noch Zukunft, auch keine Möglichkeitsform, nur die Gegenwart. "Sie sind große Empiriker, für sie zählt nur die Erfahrung", weiß Hakami, der auch auf Anfrage Vorträge hält. Wenn die Maniq spielen, gibt es keine Gewinner und Verlierer, so wie es in ihrer Sprache keinen Komparativ gibt, kein "besser","höher","schneller" oder "weiter". Die egalitäre Gesellschaftsstruktur und die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen verleiten linksliberal gesinnte Menschen mitunter dazu, in den Jäger-und Sammlerkulturen ein exotisch schillerndes Ideal zu erblicken. Zudem leben diese Völker im Einklang mit der Natur, mit vorbildlichem ökologischen Fußabdruck. Sie horten keine Gegenstände, kommen ohne Plastik aus und tragen nicht zum Klimawandel bei. Und sie kennen kein Besitzdenken, denn in ihrer Sprache gibt es keine Possessivpronomen, kein "Mein" und kein "Dein".

"Als ich einmal ein T-Shirt verschenkte, wanderte es im Laufe der Zeit von einer Person zur nächsten", erinnert sich Hakami. Ein andermal holte er einen Sack voll Zigaretten aus seinem Rucksack. Er wollte sie erst später verschenken, doch es dauerte nicht lange, bis eine Frau kam und die Zigaretten unaufgefordert mit sich nahm. Aber auch in diesem Fall wurde die Ware allmählich über die ganze Gruppe verteilt, wie der Forscher beobachten konnte: "Im Unterschied zu unseren Gepflogenheiten greift man dort einfach zu: Nicht der Geber, sondern der Nehmer bestimmt, wann und wie etwas aufgeteilt wird." Teilen ist die Basis ihrer Ökonomie und so selbstverständlich, dass es nicht einmal ein Wort wie "Danke" gibt.

"Edle Wilde" oder primitive Menschen?

Doch eine romantisierende Verklärung der Jäger und Sammler als "edle Wilde" ist ebenso wenig angebracht wie eine moralische Abwertung als primitive Steinzeitmenschen. "Man muss immer das ganze System betrachten", gibt Hakami zu bedenken. Und dazu gehört bei den Maniq etwa auch eine Form der Kindstötung in Form von nachgeschalteter "Geburtskontrolle". Dass Frauen in kürzeren Abständen Babys bekommen, ist dort nicht vorgesehen, da ein Kind mobil sein sollte, bevor eine weitere Geburt erfolgt. Wenn Jäger und Sammler weiterziehen, müssen sie alles, was sie mitnehmen wollen, selbst tragen. So kommt es immer wieder vor, dass Kinder vernachlässigt und somit indirekt getötet werden. In der Gruppe gibt es keine Menschen mit Behinderungen, da diese frühzeitig "ausselektiert" werden. Ältere Menschen machen den Alltag mit, solange sie können. Es gibt Momente, an denen sie ihren Lebenswillen verlieren, schildert Hakami. Dann dauert es meist nicht mehr lange bis zum Tod. Es scheint als ob sie nicht so sehr am Leben hängen, denn sie sterben leicht, sagt Hakami: "Geburt und Tod sind keine großen Angelegenheiten bei den Maniq."

Heute ist das ganze Volk vom Aussterben bedroht. Den Maniq bleiben vielleicht noch zehn bis fünfzehn Jahre, bis sie ihre Lebensgrundlagen verlieren, schätzt Hakami. Der Regenwald wird abgeholzt, Tier-und Pflanzenarten schwinden. Auf Unterstützung durch die thailändische Gesellschaft dürfen sie nicht hoffen, denn dort gelten sie als Menschen zweiter Klasse -wenn überhaupt. Falls sie den Wald verlassen und auf Dorfbewohner stoßen, kann es schon passieren, dass sie von diesen wie Tiere gestreichelt werden, erzählt Hakami.

Überall auf der Welt geraten die letzten Jäger-und Sammlergesellschaften unter Druck. Viele von ihnen sind teils sesshaft geworden oder halten ihre Lebensform nur noch für zahlende Touristen aufrecht, so wie die San im südlichen Afrika. Wird man ihnen nachtrauern, wenn sie einmal verschwunden sind? Für Yuval Noah Harari jedenfalls sind die Jäger und Sammler - für sich genommen -"die klügsten und geschicktesten Menschen der Geschichte".

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