Europa lebt durch seine Werte

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Die FURCHE-Herausgeber

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In der Info-Warteschleife bis zur entlastenden Nachricht vom positiven Ergebnis der irischen Abstimmung über den Vertrag von Lissabon suchte ich Antworten auf die Frage, warum das europäische Projekt so an Schwung verloren hat. Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer, fast fünfzehn Jahre nach Österreichs EU-Beitritt wirkt der Vorrat an Gemeinsamkeit weitgehend verbraucht.

Dabei liefen die großen Projekte beinahe schon wie von selbst, alles schien sich nur mehr der Perfektionierung der EU-Erweiterung und der Vollendung des Binnenmarktes zu verschreiben. Von einem Gruppenfoto zum nächsten war man entlang eines vertrauten Manuskripts damit beschäftigt, das längst Entschiedene abzuarbeiten.

Stagnierende Lösungskompetenz

Auch auf nationaler Ebene erschöpfte sich die Politik immer mehr in der sequenziellen Erledigung von Arbeitsprogrammen der jeweiligen Regierungen. Deren – letzten Endes doch nur provisorische – Verbindlichkeit hatte einen hohen Preis. Denn mit der frühzeitigen Festlegung kam es zum faktischen Stopp jeder differenzierten Diskussion der anstehenden Fragen. „Das steht nicht im Regierungsprogramm“ wurde zur Symbolphrase stagnierender Lösungskompetenz.

Als ich in den frühen Siebzigerjahren politisch sozialisiert wurde, waren die Parteien ambitioniert darin, sich wirklich zu öffnen, intellektuell frischen Wind aufkommen zu lassen, den Anschluss zum jeweils neuesten Kenntnisstand in Wissenschaft und Praxis herzustellen. Seit Mitte der Neunzigerjahre erlahmte dieser Schwung merklich, Parteilichkeiten drängten sich nach vorne, anspruchsvolle Diskurse wurden seltener. Bemühte Öffentlichkeitsarbeit ersetzte ernsthafte Arbeit mit der am Politischen interessierten Öffentlichkeit.

Erst die Finanzmarktkrise reißt uns nun aus dem politischen Wachkoma. Plötzlich ist Politik wieder wichtig, sind neben Höchstleistungen im Krisenmanagement auch neue ordnungspolitische Entwürfe gefragt. Wir haben offenkundig keine andere Wahl, als aus der Not eine Tugend zu machen und uns demokratiepolitisch zu fordern: mehr direkte Demokratie, vertiefte Diskussionen über die besten Lösungen und intensivierte Anstrengungen, längst als notwendig Erkanntes auch umzusetzen.

Chance auf stärkere Rolle

Mit den neuen Spielregeln von Lissabon könnte die EU-Politik endlich kontinuierlicher arbeiten, von wechselnden Vorsitz-Qualitäten unabhängiger werden und die europäischen Zukunftsbilder in eine neue Perspektive nehmen. Dann hätte der Werte-Verbund der „europäischen Zivilisation“ (Václav Havel) eine Chance, nicht nur für uns, sondern auch in der Weltpolitik wieder relevant zu werden.

Aber neue Vertragswerke und Institutionen-Reformen sind notwendige, noch keineswegs hinreichende Voraussetzungen für eine tragfähige Zukunft Europas. Die wirkliche Entscheidung über deren Gelingen wird auf der Ebene der Werte fallen. Nur wenn wir im Stande sind, diese auch in einer säkularisierten Gesellschaft ständig zu erneuern und durch zivilgesellschaftliche Einübung mit Leben zu erfüllen, kommt wieder innerer Schwung in unser europäisches Projekt.

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