Thema: Gut Leben
Um gut zu leben, braucht das Leben einen Sinn. Das Judentum sieht diesen Sinn in der Einsicht, dass dazu zweierlei gehört: der Wille, das Leben durch sittliches Handeln zu meistern, und der Gehorsam gegenüber dem Gebot der praktischen Vernunft.
Menschliches Leben vollzieht sich aus jüdischer Perspektive also im Widerstreit zwischen Wollen und Sollen, zwischen Neigung und Pflicht. Sein Vertrauen in die Welt bezieht der Jude aus dieser Orientierung zur Sittlichkeit um ihrer selbst willen: als Regulativ für hedonistisches Glücksverlangen.
Er versenkt sich nicht in seine ganz persönliche Glaubenserfahrung, er erwartet nicht passiv die Möglichkeit seines Glücks von einem immanenten Gnadengeschehen und hält sich darin schon für vollendet, für geliebt. Glückseligkeit oder die Gnade soll nicht zum A und O des Seins werden. Ein solcher Zustand der Glückseligkeit würde sich wie selbstverständlich der göttlichen Gnade verdanken und wäre nicht das Resultat sittlichen Handelns. Ein Glaube, der nicht die Erfüllung von Gott gestellter Aufgaben fordert, verweist lediglich zurück auf das Ego. Vielmehr will er sich selbst aktiv weiterentwickeln, jenseits der Gebundenheit, die sich aus seiner Gottesgeschöpflichkeit ergibt.
Dazu gehört auch, dass Menschen unterschiedliche Startchancen haben und dass daraus unterschiedliche Lebensentwürfe werden. Die Ungleichheit gehört zur Freiheit auf jeden Fall dazu. Und diese Freiheit ist im Judentum Angelpunkt menschlicher Existenz. Erreicht wird die Freiheit paradoxerweise durch die Befolgung der Gebote. In dieser Freiheit steckt auch die Chance, dass Leben gelingt, oder die Möglichkeit, dass Leben scheitert.
So ergibt sich das Glücksmoment menschlichen Lebens aus dem Gelingen der sittlichen Lebensaufgabe: Gott zu ehren und für das Gute auf Erden einzutreten.
* Der Autor, Rabbiner, leitet das Abraham-Geiger-Kolleg in Berlin
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