System der Benachteiligung

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Gezielte Ausgrenzung von allen, die als "fremd" eingestuft werden: Rassismus ist nur auf gesellschaftlicher Ebene zu erklären und zu bekämpfen.

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Gezielte Ausgrenzung von allen, die als "fremd" eingestuft werden: Rassismus ist nur auf gesellschaftlicher Ebene zu erklären und zu bekämpfen.

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Stellen Sie sich vor, Sie werden regelmäßig von Ihren Arbeitskolleginnen wegen ihrer grünen Augen veräppelt. Oder Sie werden im Bus wegen ihres Bartes dumm angeredet und täglich erzählt Ihnen Abends Ihr kleiner Sohn, mit ihm wolle niemand spielen, weil sein Vater Bartträger sei. Stellen Sie sich vor, Sie bewerben sich um eine Stelle und werden wegen ihres ländlichen Dialektes nicht genommen. Oder stellen Sie sich vor, Sie wollen eine Wohnung mieten - und werden wegen Ihres niederösterreichischen Geburtsortes abgewiesen. Stellen Sie sich vor, sie wollen mit einer Gruppe Freunden auf ein Bier gehen - und werden als einziger nicht ins Lokal gelassen, weil sie Brillenträger sind. Oder stellen Sie sich vor, Sie werden mehrmals im Monat wegen Ihrer Körpergröße von der Polizei auf der Straße angehalten und ihr Ausweis wird kontrolliert: jemand mit ihrer Körpergröße wird laut irgendeiner Personenbeschreibung gesucht.

Absurd? Nur scheinbar. Ersetzen wir grüne Augen durch "Religionszugehörigkeit", Bart und Brille durch "dunkle Haar- und Hautfarbe", ländlichen Dialekt durch "türkischen Akzent", und vertauschen wir den niederösterreichischen Geburtsort mit einem afghanischen und die Körpergröße mit "afrikanischer Herkunft", dann kommen einem die oben beschriebenen Situationen schon bekannter, nachvollziehbarer vor. Man muss also nur die Merkmale vertauschen, nach denen Menschen mental kategorisiert, bewertet und tatsächlich behandelt werden, und schon wird ein System der Benachteiligungen und Beleidigungen absurd.

So ein System bedeutet, dass Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, Sprache, ihres Aussehens, der Religionszugehörigkeit, Staatsbürgerschaft oder Herkunft in irgendeiner Form benachteiligt werden. Situationen wie die obigen, also Benachteiligungen, Beschimpfungen oder tätliche Angriffe, erleben viele Menschen in Österreich bei der Arbeits- und Wohnungssuche, in Lokalen und Geschäften, bei Kontakten mit Behörden und mit Privaten, im öffentlichen Raum und auch durch Medien. Oftmals leben sie viele Jahre lang in diesem System, oftmals spüren sie es täglich. Dieses System nennt man Rassismus.

Viel wird geredet und geschrieben und gemahnt und versprochen, "Rassismus und Fremdenfeindlichkeit" betreffend. Vertraut erscheinen diese beiden Worte - doch was ist eigentlich gemeint? In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen Rassismus gibt es unzählige Definitionen und Definitionsversuche. Viele der Definitionen sind einander ähnlich, manche radikal, andere allgemeiner, einige hilfreich.

Philomena Essed, Kulturanthropologin an der Universität Amsterdam beschreibt, dass beim Rassismus auf Grundlage "tatsächlicher oder zugeschriebener biologischer oder kultureller Eigenschaften" Menschen als wesensmäßig andersgeartete und minderwertige "Rassen" oder ethnische Gruppen angesehen werden. Diese Unterschiede dienen laut Esseds Definition in der Folge als Erklärung dafür, dass Mitglieder dieser Gruppierungen vom Zugang zu materiellen und nicht-materiellen Ressourcen ausgeschlossen werden.

Ob Rassismus sich gedanklich, geschrieben, verbal oder als Tat ausdrückt, ist sekundär. Rassismus ist ein Gruppenphänomen: Er richtet sich gegen - tatsächliche oder imaginierte - Gruppen oder einzelne Mitglieder dieser Gruppen. Dass diese Gruppen, von denen wir schon fast selbstverständlich annehmen, dass sie die von Rassismus betroffenen sind, imaginär sind, dass die betroffenen Menschen also vor allem durch den Rassismus zu einer Gruppe mit bestimmten Merkmalen werden, ist durch die eingangs beschriebenen Beispiele sichtbar geworden. Es ist eine Frage der Willkür - und der Geschichte des Kolonialismus, des Abendlandes, des Landes Österreich, welche Merkmale als erwähnenswert hervorgehoben und negativ bewertet werden.

Rassismus richtet sich aber nicht nur gegen Gruppen, er geht auch von Gruppen aus: Es gibt keine Rassismen, die sich ein Individuum ausgedacht hat und die nur von diesem einen Individuum ausgelebt werden. Immer ist eine Gruppe NachbarInnen, eine KollegInnenschaft, eine Gesellschaft oder ein Staat mitbeteiligt. Aktiv oder schweigend, tolerierend, zuschauend. Und vor allem wird Rassismus immer zur Legitimation von Benachteiligungen oder diskriminierender Behandlung verwendet: Rassistische Ideen und Praxen funktionieren zum Vorteil der Rassisten und zum Nachteil der davon Betroffenen. Immer.

Rassismus wird nicht mehr nur durch biologische Merkmale begründet. Man rufe sich nur die in den letzten Jahren laut gewordene Argumentation in Erinnerung, die von einem "Clash der Kulturen" spricht, oder die Angstszenarien der "Überfremdung", die von manchen österreichischen PolitikerInnen forciert werden. Neorassismus oder "kultureller Rassismus" argumentiert mit unterschiedlichen, angeblich unvereinbaren Kulturen, Geschichten, Traditionen, Sitten etc. Diese Erkenntnis ist in der Rassismusforschung zentral, um ein relativ neues Phänomen vom alten, biologistischen Rassismus unterscheiden zu können.

"Die anderen" Meist in einem Atemzug mit Rassismus wird oftmals "Fremdenfeindlichkeit" genannt. Mit Fremdenfeindlichkeit und ähnlichen Termini wird jedoch selten eine alle "Fremden" generell betreffende "Feindlichkeit" gemeint: Eher selten sind in Österreich Diskriminierungen oder Übergriffe, die sich gegen blonde, weiße AmerikanerInnen richten, obwohl diese auch "Fremde" sind. Das bedeutet, dass durch einen Sprachgebrauch, der zwar "Fremde" sagt, aber nur "Türken", "Nigerianer" oder "Flüchtlinge" meint, Realität verschleiert wird. Denn es wird implizit gesagt und angenommen, dass jede und jeder versteht, dass "Fremde" nicht einfach andere als österreichische StaatsbürgerInnen sind, sondern dass "Fremde" eine bestimmte Gruppe unter diesen Nicht-ÖsterreicherInnen darstellen.

Des weiteren wird damit die Tatsache verleugnet, dass "fremdenfeindliche" Übergriffe oftmals auch auf österreichische StaatsbürgerInnen verübt werden, die aufgrund äußerlicher oder sprachlicher Merkmale als "Fremde" eingestuft werden. Rassistische Diskriminierungen, wie die eingangs beschriebenen, basieren also auf einer scheinbar einsichtigen Unterscheidung zwischen "uns" und "den anderen", die dann einer Wertung unterzogen wird und zum Nachteil der letzteren Gruppe ausfällt. Was tun? Rassismus ist ein gesellschaftliches und nicht vorrangig ein privates, psychologisches Phänomen und Problem: "Allgemeinen, von den spezifischen Rahmenbedingungen einer Gesellschaft beziehungsweise eines Staates losgelösten ,Fremdenhass' gibt es gar nicht, sondern nur die gezielte Ab- und Ausgrenzung von bestimmten Gruppen, die als ,Fremde' konstituiert werden", so der deutsche Politologe Christoph Butterwegge. Das bedeutet, dass Rassismus durchaus psychologisch erklärbar ist - Rassismus als Praxis ohne gesellschaftliche Einbettung aber nicht vorstellbar ist.

Ist man von der Sinnhaftigkeit dieser Perspektive überzeugt, dann steht auch außer Zweifel, dass man Rassismus auf gesamtgesellschaftlicher Ebene erkennen, analysieren und vor allem aktiv, hörbar und zivilcouragiert entgegentreten muss. Jede und jeder kann sich überlegen, welche Vorurteile das eigene Leben und Denken begleiten. Und woher man Meinungen über andere Menschen hat. Ob man nicht zu oft vorschnell urteilt oder vor-verurteilt - und ob man sich nicht von manchen dieser Vorurteile trennen möchte. Das wiederum können Einzelpersonen durchaus leisten. Je mehr, desto besser.

Die Autorin lebt und arbeitet als Soziolinguistin derzeit in Wien und ist Mitarbeiterin von ZARA - Verein für Zivilcourage und Anti-Rassismus-Arbeit.

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