Kein Weihnachtsfriede für Orbán

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Die Proteste gegen Ungarns neues Arbeitszeitgesetz verbinden unterschiedlichste Lager.

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Die Proteste gegen Ungarns neues Arbeitszeitgesetz verbinden unterschiedlichste Lager.

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Wenn vor dem Parlament demonstriert wird, bebt die Erde. Im Rhythmus von Fußball-Fans hüpfen die Menschen und singen Parolen, wie im Stadion: "Bodenheizung für den Kossuth-Platz!" Schließlich kann man sich bei den Kundgebungen leicht kalte Füße holen. Was Mitte Dezember als Protest von Gewerkschaften gegen ein neues Arbeitszeitgesetz begonnen hat, ist zu einer Protestbewegung gegen das autoritäre System Orbán geworden. Und es sieht nicht so aus, als hätte die Protestwelle über die Feiertage an Dynamik verloren.

"Scheiße mit Schnurrbart", skandierten Demonstranten am 21. Dezember vor dem Sándor-Palais in Budapest, dem Amtssitz des schnauzbärtigen Staatspräsidenten János Áder. Der hatte gerade das "Sklavengesetz" unterschrieben, das den Unternehmern die Möglichkeit gibt, Überstunden im Ausmaß von 400 statt bisher 250 Stunden jährlich einzufordern und sich mit der Bezahlung drei Jahre Zeit zu lassen. Tagelang protestierte eine bunte Mischung aus Arbeitern, Intellektuellen, Fußball-Ultras und anderen Unzufriedenen gegen dieses Gesetz, das als Geschenk für die deutsche Autoindustrie gesehen wird.

Hintergrund des Marktliberalisierungsgesetzes ist das Werben der Regierung um die Autoindustrie, allen voran die deutsche. Außenminister Péter Szijjártó hatte Ende November in Nordrhein-Westfalen deutschen Industriellen zugesichert, die ungarische Regierung würde für die nötigen Arbeitskräfte garantieren. Seit Viktor Orbáns Antreten 2010 sind über 800.000 mehrheitlich junge Arbeitskräfte aus Ungarn abgewandert. Da im formalen Arbeitsmarkt praktisch Vollbeschäftigung herrscht und Ungarn Zuwanderung ablehnt, müssen die vorhandenen Arbeitskräfte stärker belastet werden, so die Analyse der Gewerkschaften. Sie fürchten, dass auf diesem Wege durch die Hintertür die Samstagsarbeit wieder eingeführt werden soll. Orbán findet das Gesetz gut für die Arbeiter, da es ihnen ermöglicht, mehr zu arbeiten.

Die Proteste werden von respektlosen jungen Menschen getrieben, die Orbán nicht als den mutigen Liberalen im Gedächtnis haben, der einst auf dem Heldenplatz Brandreden gegen das wankende kommunistische Regime hielt. Sie kennen ihn als arroganten, autoritären Caudillo, der sich und seinen Spezies die Taschen füllt. Sie finden die Gängelung der Medien unerträglich und wollen nicht verstehen, warum Gesundheitssystem und Bildungswesen vor die Hunde gehen. Anders als die sehr zurückhaltend auftretenden Bürgerlichen, die für Pressefreiheit oder die liberale Central European University (CEU) auf die Straße gingen, hat diese Generation keine Scheu, sich mit Polizisten anzulegen und obszöne Slogans zu singen.

"Sturm auf die Bastille"

Eine der treibenden Kräfte bei den Protesten ist die pro-europäische Momentum-Bewegung, die 2017 Ungarns Olympia-Bewerbung für 2024 zu Fall brachte. Sie fällt durch ihre lilafarbene Pyrotechnik auf, die man sonst aus dem Stadion kennt. Dass die Demonstrationen sich nicht mehr nur gegen das Arbeitszeitgesetz richten, sondern das autoritäre System Orbán insgesamt angreifen, kann man am neuen Logo erkennen, das in Budapest allgegenwärtig ist: O1g. Das steht für "Orbán ist ein Onanist", wörtlich "ein Spermium". Das geht auf ein Interview des Oligarchen Lajos Simicska zurück, der nach seinem Bruch mit seinem Jugendfreund Orbán vor viereinhalb Jahren zu deftigen Worten griff. Das Logo wird meist als schwarzer Kreis mit einem eingeschriebenen G und einer 1 in der Mitte gezeichnet oder mit Laser an die Fassaden des Parlaments oder der ehrwürdigen Pester Burg projiziert. Manche Demonstrantinnen kleben es sich auf die nackten Brüste. Die Proteste werden frecher, die Slogans sind oft originell.

Dass die Regierung nicht weiß, wie sie mit der Protestwelle umgehen soll, zeigte Regierungssprecher Zoltán Kovács, der gegenüber den Medien versuchte, einen Aufstandsversuch der Oppositionsparteien zu entlarven. Politisch hätten sie versagt und seien dafür an den Urnen abgestraft worden. Jetzt bliebe ihnen nur die Straße. Außerdem steckten die Knechte von George Soros dahinter, die -wie der ungarischstämmige Milliardär -Europa mit Flüchtlingen überfluten wollen. Also liberale Zirkel in den NGOs und Universitäten.

Die Oppositionsparteien rechts und links der regierenden Fidesz scheinen tatsächlich aus dem Siechbett erwacht, in das sie nach der Wahlschlappe im vergangenen April gefallen waren. Sie marschieren vereint und stehen gemeinsam auf den Rednertribünen. Ihr Engagement wird offensichtlich auch von anderen Demonstranten ernst genommen, denn anders als früher wird das Schwenken von Parteifahnen in den Protestzügen toleriert. Auch die bisher gefügigen Gewerkschaften, die als Vorfeldorganisationen der Regierung gelten, haben ein Lebenszeichen von sich gegeben und sich zumindest teilweise rehabilitiert.

Am Samstag wird wieder marschiert. Eine gerade gegründete Studentengewerkschaft sieht sogar schon den Moment für den Sturm auf die Bastille gekommen und will das Regime an diesem Tag mittels Generalstreiks in die Knie zwingen.

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