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Digital In Arbeit

Zu neuen Ufern

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Wir beschließen im nachfolgenden die Veröffentlichung einiger Auszüge aus der Alpbacher Rede des internationalen Sekretärs der holländischeu Partei der Arbeit, Alfred Mo:tt, von denen der erste Teil bereit in Nummer 3S erschienen ist. Der volle Wortlaut der Rede erscheint, gekoppelt mit der Gegenrede des deutschen Bundesministers H. ]. von Merkatz über „Das konservative Leitbild in unserer Zeit“, im Oktoberheft der Zeitschrift „FORVM“, die uns in kollegialer Weise den Vorabdruck aus der Rede Alfred Mozers ermöglicht hat. Die Redaktion

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Wir beschließen im nachfolgenden die Veröffentlichung einiger Auszüge aus der Alpbacher Rede des internationalen Sekretärs der holländischeu Partei der Arbeit, Alfred Mo:tt, von denen der erste Teil bereit in Nummer 3S erschienen ist. Der volle Wortlaut der Rede erscheint, gekoppelt mit der Gegenrede des deutschen Bundesministers H. ]. von Merkatz über „Das konservative Leitbild in unserer Zeit“, im Oktoberheft der Zeitschrift „FORVM“, die uns in kollegialer Weise den Vorabdruck aus der Rede Alfred Mozers ermöglicht hat. Die Redaktion

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Heute haben wir nach einigen Jahrzehnten praktischer Erfahrung das Recht zur Behauptung, daß die Sozialdemokratie, die in vielen europäischen Ländern oft unter schwierigsten Verhältnissen und mit außergewöhnlichen Forderungen an ihr Verantwortungsbewußtsein für die Gesamtheit der Nation die Staatsschiffe mitgesteuert hat, in ihrem Staatsbewußtsein und in ihrer demokratischen Gesinnung sicherlich nicht hinter anderen demokratischen Gruppierungen zurücksteht. Für den europäischen Sozialisten, der aus dem Bedeutungsschwund Europas während der letzten , Jahrzehnte die Pflicht folgert, neue Wege der übernationalen Zusammenarbeit zu suchen, die mehr sind als eine Fa?sadc, drängt sich hier manchmal eine geradezu entgegengesetzte Kritik auf. Er möchte den traditionellen Internationalismus des Sozialismus erneut belebt sehen. Er hat manchmal den Eindruck, daß die Sozialisten in verschiedenen europäischen Ländern nicht nur gute, sondern vielfach die letzten Träger der Nation sind. Oder, um es mit dem bissigen, aber leider nicht völlig unberechtigten Satz Ignazio Silones zu formulieren: Von allen Nationalisierungen ist den Sozialisten am besten gelungen die Nationalisierung der sozialistischen Parteien.

Dieser Wechsel des Gesichtsfeldes kann aber verhängnisvoll werden in einer Zeit, in der die einschneidendsten Entscheidungen über unsere Existenz nicht mehr ausschließlich und nicht einmal mehr vorherrschend innerhalb der nationalen Grenzen unseres balkanisierten Europas fallen. Wer sich dabei eitlen Hoffnungen über die allzu großen Unterschiede zwischen sogenannten kleinen und sogenannten großen europäischen Ländern hingibt, dem empfehle ich die Lektüre des schwedischen Geopolitikers Rudolf K j e 11 e n. Nicht weil ich Bewunderung für den Vater einer Staatslehre habe, der im Staate die „überindividuelle Persönlichkeit“ sah. Sondern weil das berühmte ruhige Viertelstündchen ernster Ueberlegung deutlich machen kann, was von den Großmächten des Jahres 1914 noch übriggeblieben ist.

Ich wage diese Dinge zu sagen in einem Augenblick, in dem die konjunkturelle Entwicklung in unseren Ländern dem nationalen Selbstbewußtsein wiederum schmeichelt und den Schein einer dauerhaften und befriedigenden Regelung der geistigen und materiellen Lebensfragen innerhalb der nationalstaatlichen Grenzen vorspiegelt. Es wäre ein Gewinn für uns alle, wenn man sich von diesem Schein nicht irreführen ließe und endlich einsähe, daß eine europäische Potenz etwas anderes ist als die Summe nationalstaatlicher Ordnungen. Es könnte sich eines Tages auch für die sozialistische Bewegung trügerisch erweisen, daß man sich nach der Ueberwindung der Rechtlosigkeit des 19. Jahrhunderts heute im vollwertigen Besitz eines wohlverdienten Platzes am nationalen Tisch sonnt. Die Errungenschaften von gestern, wenn sie nicht den Zeitforderungen des Heute angepaßt sind, können einer fortschrittlichen Bewegung, ehe sie es merkt, den Charakter einer konservativen Gesinnung geben, so wie der Radikalismus heutiger Marxisten nicht darüber hinwegtäuschen kann, daß eben dieser Pseudoradikalismus das Kennzeichen für den konservativsten Teil des Sozialismus ist.

Sie sehen auf dem Gebiete der nationalen Gesinnung eine Entwicklung, die zu den stärksten Argumenten der Teilhaberschaft des demokratischen Sozialismus an der westlichen Welt und ihren Auffassungen gehört, mich jedoch, im Hinblick auf die Formen, die sie annimmt, verleitet, zu sagen: weniger wäre vielleicht mehr gewesen.

In diesem Zusammenhang ein Wort zu der rrage der Verteidigung unserer Freiheit. Es gibt heute keine sozialdemokratische Partei, die nicht die Schlußfolgerung akzeptiert, daß die Freiheit nur wert ist. wer sie zu verteidigen bereit ist. Es mag dann, wie etwa im heutigen gespaltenen Deutschland, taktische Erwägungen des Wie und der näheren Bedingungen geben — in solchen taktischen Fragen bildet in verschiedenen Ländern keineswegs die Sozialdemokratie eine Ausnahme —, am Grundsatz der Verteidigungsbereitschaft hält sie fest. Das ändert nichts an ihrem Verlangen nach Frieden, worin sie sich wiederum nicht unterscheidet von nichtsozialistischen Strömungen unserer Länder. Bemerkenswert ist hierbei, daß dieser Zug völlig im Widerspruch zum Marxismus steht, dessen einstige Begründer sich in Militär- und Kriegsfragen auf eine Weise geäußert haben, die einer der vielverschrienen preußischen Militaristen kaum für seine Rechnung nehmen würde.

Aber lassen Sie mich schließlich zum letzten und aktuellsten Gebiet kommen, an dem ich den Wandel des freiheitlichen Sozialismus demonstrieren möchte: am Wandel in den wirtschaftlichen Auffassungen. Die vorwiegend wirtschaftliche Fundierung des Marxismus mußte ergeben, daß sich hier die einschneidendsten Veränderungen ergaben.

Was blieb von der Konzentrationstheorie, also der Auffassung, daß immer mehr Produktionsmittel in den Händen immer weniger Menschen sein werden? Und damit entscheidend verbunden, was blieb von jener Verelendungstheorie, nämlich, daß die vielen stets weniger haben und bekommen werden und die wenigen stets mehr? Jene Entwicklung, die dann zwangsläufig zur Expropriation der Expropriateure führen müßte, zu jener großen Katastrophe, bei der die zusammenbrechende bestehende Gesellschaft durch die neue abgelöst würde.

Gegenüber der Tatsache, daß eben auch andere als ökonomische Ursachen das Denker und Handeln des Menschen bestimmen; daf dadurch Korrekturen geschaffen wurden ar jenem Elend, das kennzeichnend war für da; 19. Jahrhundert, erwies sich diese Auffassung als sehr zeitbedingt pessimistisch. Dazu kamen jedoch auch wirtschaftliche Entwicklungen und Entdeckungen, die den marxistischen Erwartungen widersprachen. In der Landwirtschaft gab es seit der Proklamation der marxistischen Konzentrationstheorie nie eine entsprechende Entwicklung. Der Elektromotor schuf eine Existenzberechtigung für den kleinen und mittleren Betrieb, die in der marxistischen Theorie nicht vorgesehen war. Die Klassen erwiesen sich als vielfach sehr differenzierte Gruppen mit großen Interessengegensätzen in sich.

Die Kritik am Marxismus durch Bernstein hat hier einfach den Charakter einer psychoanalytischen Behandlung gehabt: ein Gesellschaftsbild, das ebenso schön wie falsch war, wurde in seine Bestandteile aufgelöst. Man saß mit den Bruchstücken und mußte aus eigener Kraft und Einsicht einen neuen Weg der Gestaltung suchen.

Von der Geschichte durch die eigene Klassenlage berufen — nicht einmal aus eigener freier Wahl —, fühlte man sich ursprünglich als Totengräber dieser Gesellschaft; nun aber zeigte es sich, daß man vielleicht ihr Arzt, ihre Krankenschwester oder auch ihre Ortskrankenkasse sein müsse. Einst fühlte man sich neben dieser Gesellschaft stehen; jetzt ergab sich, daß man mitten in ihr stehen müsse und daß ein Wort von Marx, in einem viel direkteren Sinne, als es gemeint war, seine Gültigkeit bekommen hatte: die Philosophen haben die Welt verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern.

Die Heilsbotschaft — dies sollte man nie vergessen, auch wenn sie einem noch so unannehmbar erschien — war geboren aus der Liebe zum Menschen, aus der Bitterkeit über Not und Elend, die weit über die Grenzen dessen hinausreichten, was menschlicher Unvollkommenheit unkorrigierbar ist. Der Irrtum dieser Heilsbotschaft änderte nichts an der Verpflichtung, auf jener diesseitigen, menschlichen Ebene, wo

Menschen für ihre Mitmenschen verantwortlich sind, jenes Maß Gerechtigkeit zu verwirklichen, das menschlicher Würde entspricht.

Während man erst dem naturnotwendigen, dem gesetzmäßigen Ablauf der wirtschaftlichen Entwicklung zusehen konnte, war man jetzt verpflichtet, Ansatzpunkte des Eingreifens zu finden. Dabei ergaben sich einige ganz deutliche Grundsätze. Die bestehende Gesellschaft bewies jeden Augenblick, daß es eine Lüge war, zu behaupten, daß die konsequenteste Verfolgung der Einzelinteressen gewissermaßen automatisch zur besten Befriedigung der Gesamtinteressen führe. Die bestehende - die damalige und die heutige — Gesellschaft bewies, daß die immer wieder dem Sozialismus entgegengehaltene Behauptung von der Ungleichheit der Menschen in Anlage und Leistung als der Rechtfertigung für einen uneingeschränkten Individualismus auf einem Trugschluß beruhte. Wirtschaftliche, politische und soziale Macht sind auch heute noch in einer Weise verteilt, die wenig oder gar nichts mit der durchaus anzuerkennenden Ungleichheit der Menschen zu tun hat. Hier werden sehr verschiedene Dinge vermengt und führen damit zum Versuch einer Rechtfertigung gesellschaftlicher Ungleichheit, die weit über die natürliche Ungleichheit hinausgeht und Unrecht zu legalisieren sucht. Dieser Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, dieser Entmenschlichung des Menschen entgegenzutreten, ist eine notwendige Aufgabe, mit der der Sozialismus seine Daseinsberechtigung durchaus begründen kann.

Erst nach Anerkennung dieser notwendigen und berechtigten Korrektur der bestehenden Gesellschaft steht die Zweckmäßigkeit der dazu angewandten Mittel zur Diskussion.

Noch im Banne des historischen Materialismus propagierte der Sozialismus die Vergesellschaftung der Produktionsmittel als eine Lösung des, wie ich anzudeuten versucht habe, menschlichen Problems, das es auch in der “heutigen Gesellschaft noch zu lösen gilt. Dabei spielte der Begriff des Eigentums zeitweilig eine große Rolle. Die Bereitheit zur Entschädigung bei der Enteignung bedeutet zwar die Anerkennung eines Rechtsgrundsatzes, ist jedoch nach meiner Auffassung nicht die wichtigste Frage dieses Problems. In dem Maße, in dem man erkannte, daß das Machtinstrument als solches entscheidender sein kann als der damit — vielleicht - verbundene private Besitz, wurde in sozialistischen Diskussionen dieser Vergesellschaftungsbegriff verfeinert. An die Stelle der Vergesellschaftung der Produktionsmittel trat die Vergesellschaftung der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, wobei das Eigentumsrecht unberührt, der Machtmißbrauch jedoch eingeschränkt werden sollte. Es gibt innerhalb und außerhalb der sozialistischen Reihen viele Diskussionen über die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Jedenfalls ist man sich heute darüber einig, daß Vergesellschaftung keineswegs gleichbedeutend zu sein braucht mit Verstaatlichung.

Mit dieser letzten Bemerkung habe ich bereits den Uebergang zu einer Zusammenfassung Jenes Wandels im Leitbild des freiheitlichen Sozialismus erreicht, den zu zeichnen ich versuchen wollte.

Das weitaus Entscheidende scheint mir zu sein, daß dem heutigen demokratischen Sozialismus jens geschlossene Gesellschaftsbild fehlt, das ihm der Marxismus einst meinte liefern zu können. Es gibt innerhalb der sozialistischen Parteien noch immer Gruppen und einzelne, die dies entweder nicht wahrhaben wollen oder doch nur ungern eingestehen. Es gibt außerhalb der sozialistischen Parteien viele ihrer Widersacher, die in diesem Mangel eines geschlossenen Gesellschaftsbildes ein durchschlagendes Argument sehen, den Sozialismus als überwunden betrachten zu dürfen. Ich selbst, und mit dieser meiner Auffassung stehe ich wahrlich nicht allein, stelle mit voller Ueber-zeugung fest, daß ich die Begrenzung des Sozialismus auf eine Gesellschaftsauffassung — an Stelle einer Weltanschauung — begrüße und seine Befreiung aus einem „geschlossenen Gesellschaftsbild“ als ein Bekenntnis zur Arbeit in dieser unserer gemeinsamen Gesellschaft westlicher Prägung als einen Gewinn betrachte. Fünfzig Jahre sozialistischer Mitarbeit an dieser Gesellschaft und ihren Wandlungen haben geistiges und materielles Unrecht lindern und überwinden helfen, haben ausgebeutete und unterentwickelte Gruppen dieser Gesellschaft in den Bereich der Menschenwürde gebracht und damit diese Gesellschaft als Ganzes bereichert.

Fassen Sie diese Sätze nicht als einen billigen Fortschrittsglauben auf. Ich bin mir der relativen Bedeutung dessen, was ich sagte, durchaus bewußt. Außerdem gebe ich mich der Hoffnung hin, daß Sie aus meinen Ausführungen nicht den Schluß zu ziehen gezwungen sind, als sähe ich in den Fragen der menschlichen Gesellschaft nur Magenfragen. Die Veränderungen in der Gesellschaft, die zu verwirklichen der Sozialismus beigetragen hat, sind aber vielfach Voraussetzungen für das Zustandekommen jenes Zusammenlebens, das an sittliche Normen gebunden sein soll, zu denen sich der freiheitliche Sozialismus bekennt, obwohl er nicht den Anspruch erhebt, sie zu postulieren. Nicht alles, was neu ist, ist darum besser.

Nicht alles, was besteht, verdient darum erhalten zu bleiben. Als Sozialist bin ich mir bewußt, daß der freiheitliche Sozialismus auf seinem Wege von der Klassen- zur Volksbewegung nur zu seinem Teil einen Beitrag bei der Gestaltung der Gesellschaft liefern kann. Mit diesem Beitrag Sie zu beschäftigen, war meine Aufgabe. Ob dieser Beitrag das Bild oder das Zerrbild einer menschenwürdigen Gesellschaft mitzuschaffen imstande ist, hängt nicht nur von den Sozialisten ab. In einer pluralistischen Gesellschaft — und die abendländische Welt wollte immer eine Einheit-in-der-Ver-schiedenheit sein — wird die vernünftige Gestaltung des Ganzen entschieden vom Verantwortungsbewußtsein seiner Teile. Rechte stehen in einem polaren Verhältnis zu Pflichten. Für die Diskussion, aber auch für die praktische Arbeit in der Gesellschaft wünsche ich mir gute Liberale und gute Konservative, die anderen und sich selbst gegenüber gleichermaßen anspruchsvoll sind, wie ich es als Sozialist zu sein wenigstens versucht habe.

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