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Aufforderung zum Erinnern

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Brasilien, sowohl Ziel jener, die vor den Nationalsozialisten flüchteten, wie jener, die einst den Nazis gedient hatten, bildet den Rahmen zu Christoph Ransmayrs Roman „Morbus Kitahara".

Bering, ein Kind des Krieges, geboren in der Bombennacht von Moor, Sohn eines Kriegsveteranen und einer Mutter mit religiösem Wahn, hat bei einem Überfall durch die Kahlköpfe einen der Angreifer erschossen. Das Bild seines Opfers wird ihn nicht mehr loslassen. Schwarze Flecken schränken sein Augenlicht ein. Morbus Kitahara heißt die Krankheit, an der er leidet, die zumeist Soldaten oder Scharfschützen befällt: „Diese japanische Krankheit würde ihn nicht blind machen ... Die Löcher in seiner Welt würden verschwinden. Er mußte nur warten. Geduld haben."

Umringt von Gebirge, begrenzt vom Steinernen Meer, ist Moor von der Welt abgeschnitten. Kein Tourist soll dieses Land mehr betreten. Denn-dort, wo kein Zug mehr verkehrt, wohin keine Straßen mehr führen, herrscht- der Friede von Oranienburg.

Moor figuriert als Exempel dessen, was hätte werden können, wäre der Morgenthau-Plan realisiert worden, wonach ein verkleinertes Deutschland zum reinen Agrarstaat umfunktioniert werden sollte.

Die Bewohner, degradiert zu Steinbrucharbeitern und Bübenbauern, sind dem Diktat der Sieger untwor-fen: „Auf unseren Feldern wächst die Zukunft". Doch welche Zukunft kann unter jener „Großen Schrift" wachsen: „Hier liegen elftausend-neunhundertdreiundsiebzig Tote erschlagen von den eingeborenen dieses Landes. Willkommen in Moor"? Sobald der Steinbruch ausgebeutet ist, soll Moor nur noch als Truppenübungsplatz für die Armee der Sieger fungieren. Doch bis es so weit ist, bleibt Moor der von General Stella-mour auserkorene Ort der Sühne. Gebrochen ist der Stolz der Moorer, und stolz waren sie, so stolz, daß sie den großen Krieg begonnen und Vernichtungslager errichtet haben. Nun müssen sie alljährlich zu „Sühneparties" zusammenkommen, um die mörderischen Foltermethoden der ehemaligen Konzentrationslager nachzustellen. Subtil geht Bansmayr damit der Ästhetisierung des Schreckens auf den Grund. Denn offensichtlich finden auch die Sieger Gefallen an Folterungen. Bansmayr kreuzt die Koordinaten der Geschichte mit jenen der Fiktion. Er spekuliert damit, was hätte werden können, wenn... Was demnach von Deutschland geblieben wäre, zeigt sich bei Berings Reise nach Brasilien: „Der Nordsee-Expreß durchzog windige Steppen ... Nürnberg las Bering auf einem von schwarzem Gestrüpp überwucherten Stellwerk, hinter dem aber kein Bahnhof und keine Stadt, sondern wieder nur Steppe lag."

Drei Figuren tragen die Handlung: Bering, der Schmied, Ambras, der Hundekönig und Lily, die Brasilianerin. Bering gelingt es, das Erbstück des ehemals in Moor stationierten Rächers, Major Eliots Studebaker, nunmehr das einzige Auto im Umkreis, für Ambras in ein bemerkenswertes Fahrzeug zu verwandeln. Ambras war einst ins KZ verschleppt worden, da er eine Jüdin liebte - er regiert nach dem Abzug des Majors über Moor. Mit einer Schar von Hunden, die er bei seiner Abreise freiläßt, lebt Ambras zurückgezogen in die Erinnerung an seine Vergangenheit, sein Herrschen erscheint nur als Fassade. „Innere Emigration" scheint sein Lebensmodell. Bering, den er zu seinem Leibwächter ernannt hat, ist neben Lily, der Grenzgängerin, seine Verbindung zur Außenwelt. Das Verhältnis der beiden Männer wird größtenteils von der Hegeischen Herr-Knecht-Dialektik getragen, derzufol-ge der Herr ohne seinen Knecht nicht als solcher existieren kann. Die dritte im Bunde ist Lily, die Tochter eines Wiener KZ-Schergen. Als ihre Familie gegen Kriegsende nach Brasilien fliehen wollte, wurde ihr Vater von einem ehemaligen KZ-Opfer erkannt und von anderen Flüchtlingen auf brutalste Weise umgebracht. Lily ist die einzige, die uneingeschränkt die Grenzen von Moor passieren darf, bis sie mit Ambras und Bering endlich nach Brasilien aufbricht, denn der Schmied und der Hundekönig sollen dort im Steinbruch arbeiten.

„Was immer es ist, laß es los. Schau anderswo hin." Dies rät der Arzt seinem an Morbus Kitahara leidenden Patienten Bering. Gerade das ist keine Lösung, denn nicht er läßt die Vergangenheit nicht los, vielmehr diese ist es, die sich nicht verbannen läßt. So erschießt Bering a,us einem Affekt eine Brasilianerin, die Lilys Mantel trägt.

Wenn Schuld die Verdunkelung des Blicks mit sich zieht, dann soll man also etwas anderes anschauen und Geduld haben. Morbus Kitahara wird damit zur Metapher des Erin-nerns, vor dem es kein Entkommen gibt, und deshalb müssen Bering und Ambras, buchstäblich aneinanderge-kettetet wie das A und B im Alphabet, auch gemeinsam untergehen, während Lily, die Grenzgängerin, unbeschadet aus dem Geschehen abfahren kann.

Mit „Morbus Kitahara" ist Rans-mayr etwas gelungen, das Mahn-mäler, Gedenktafeln oder eben Gesinnungsliteratur bislang nicht geschafft haben, nämlich in der Tat aktives Ge-Denken.

„Auf unseren Feldern wächst die Zukunft" - die eines neuen Kriegs. Ransmayr gibt keine Anleitung, wie man mit Vergangenheit umgehen soll, und liefert damit umso mehr den Nachgeborenen die Grundlage für eine neue Auseinandersetzung mit etwas, das sie zwar nur aus der Geschichte kennen, aber in der Gegenwart rechtzeitig erkennen sollen.

MORBUS KITAHARA

Roman.

Von Christoph Ransmayr.

& Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1995.

440 Seiten, Ln., öS 326,-

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