Umgang mit Kickl: Die Gefahren umgekehrter Verantwortung
Vergangene Woche beschrieb Aurelius Freytag an dieser Stelle die „gefährlichen Folgen moralischer Selbsterhöhung“ – und warum die „Nazi-Keule“ gegenüber FPÖ-Wählern unvernünftig sei. Eine Replik.
Vergangene Woche beschrieb Aurelius Freytag an dieser Stelle die „gefährlichen Folgen moralischer Selbsterhöhung“ – und warum die „Nazi-Keule“ gegenüber FPÖ-Wählern unvernünftig sei. Eine Replik.
Die Replik auf Aurelius Freytag sollte eigentlich ein Psychohistoriker schreiben, der sich mit den verborgenen Motiven geschichtlicher Prozesse befasst. Denn es ist bemerkenswert, wie Teile des bürgerlich-konservativen Milieus die Verantwortung für das Erstarken von Rechtsextremen seit jeher voller Verständnis für deren Anliegen reflexartig bei allen anderen, vor allem „Linken“, suchen – nur niemals bei sich selbst. So sind für den Erfolgskurs der FPÖ laut Freytag u.a. die Anforderungen einer Gesellschaft in Veränderung und die moralisierende Dauerbelehrung und Selbsterhöhung linker Journalisten sowie die elitäre Gender- und Identitätspolitik verantwortlich.
Die Selbsterhöhung ist tatsächlich gefährlich. Versteht man darunter die Selbstermächtigung diskriminierter Gruppen und Minderheiten, die nicht mehr nur toleriert werden möchten, sondern um öffentliche Anerkennung und Teilhabe kämpfen, ist sie gefährlich für all jene, die das Deutemonopol über die „Normalität“ von Werten und Lebenskonzepten und das Machtmonopol über gesellschaftliche Ressourcen für ein angeborenes Naturrecht halten. Wenn mediale und wissenschaftliche Eliten aus der Forschung zu Klima, Rassismus, Postkolonialismus, Gender- und Identitätsthemen ethische und politische Konsequenzen ziehen, ist dies gefährlich für alle, die für moralisch alles erlaubt halten, was nicht rechtlich verboten ist – und die moralische Ansprüche desavouieren.
Kampf um Hegemonie und Privilegien
Deren gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen sind tatsächlich bedroht. Auch wenn es links der Mitte ideologische Entgleisungen gibt: Hier findet ein Kampf um Hegemonie statt, bei dem die etablierten Eliten ihre Privilegien zu Recht bedroht sehen. Die Ursachenanalyse Freytags kann einem dann freilich als Umkehr der Verantwortung erscheinen. Anders erschließt sich mir nicht, warum ein Repräsentant der bürgerlichen Intelligenz die aktuellen Probleme zwar präzise beschreibt, aber Ursache–Wirkungszusammenhänge herstellt, die evidenzbefreit sind – oder aus ihnen naive Schlüsse zieht. Drei Beispiele:
Bereits die Europäische Wertestudie 2010 belegte, dass rechtspopulistische Parteien in jenen Ländern reüssieren, in denen die konservativen Mainstreamparteien deren Motive übernehmen und salonfähig machen. Auch die Rechtsextremismusforscherin Julia Ebner („Massenradikalisierung“) zeigt, dass die Übernahme rechtsextremer Motive durch die bürgerliche Mittelschicht infolge strategischer Social-Media-Politik Rechtsextremer eine wesentliche Ursache für Radikalisierung ist.
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