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Elsaß: Das Menschenrecht auf Muttersprache gilt nicht

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Das Elsaß ist tatsächlich d i e europäische Region, als Ubergangslandschaft zwischen Kulturen und Sprachen. Seine geographische Lage zwischen Deutschland und Frankreich, seine landschaftliche Geschlossenheit zwischen Vogesen und Europas Strom, dem Rhein, seine deutsche Geschichte mit französischen Uberlagerungen, seine Bevölkerungszahl und Bevölkerungsdichte (rund zwei Millionen Einwohner), sein überaus großes Wirtschaftspotential mit einem eher ausgewogenen Gleichgewicht zwischen städtischer, industrieller Bevölkerung und im weiteren Sinne Landbevölkerung, seine reiche Kultur mit fast ausschließlich deutscher (alemannischer) baukünstlerischer Tradition, aber bemerkenswerten Bauten auch einer durchaus achtbaren französischen Baukunst in Straßburg und grandiosen Werken der Malerei des Mittelalters und der frühen Neuzeit, zwar gipfelnd im Grünewald-Altar in Colmar, aber sich bis in die reichen Bürgerhäuser verzweigend, seine überlieferte Dichtkunst (man denke an Rene Schickele, Georg Schaffner, Otto Flake, vor allem aber an die markante elsässische Mundartdichtung, die heute wieder floriert), die europäische Hauptstadt Straßburg mit dem vielleicht großartigsteh Sakralbau Europas, germanisch in ihrer kulturellen Tradition, aber im Lauf der Geschichte ein Element französischer Kultur geworden, wie sie in Frankreich selbst kaum noch besteht, sondern sonst vielleicht nur noch in Quebec: dies alles macht aus dem Elsaß eine Region par exellence und zwar eine Grenzregion.

Das Elsaß, im Mittelalter und in der Renaissance auf stolzer Höhe, wurde im Dreißigjährigen Krieg in den Strudel der Religions- und Nationalitätenkriege gerissen und war seither abwechselnd deutsch und französisch besetzt - (der Ausdruck „besetzt“ darf nicht militärisch beurteüt werden, sondern politisch einschließlich der Kultur- und Sprachpolitik). Es trägt heute die Stigmata dieser Entwicklung, die bisher nicht zur Wiedergewinnung der inneren Freiheit, ja nicht einmal einer regionalen Autonomie geführt hat.

Wer immer das Elsaß beherrscht hat, seit die Habsburger dort nicht mehr ihre Vorposten mit kultureller Großzügigkeit hatten, also seit 1815, versuchte, die Elsässer ihrer ethnischen Identität zu berauben. Die Deutschen wollten die Elsässer politisch zu Deutschen machen und die Franzosen politisch zu Franzosen mit Einbeziehung in die „nation une et indivisible“. Die Elsässer fühlen sich heute kulturell vielfach als Franzosen, aber treten zunehmend mehr für Erhaltung und Pflege ihrer eigenen Sprache und politisch für Autonomie und Eigenständigkeit ein. Sie werden von den Franzosen in ihrer Wesenheit nicht verstanden.

Den Franzosen ist es nicht gelungen, die Seele des Elsaß zu erfassen oder zu den Herzen der Elsässer vorzudringen, obwohl nach den Verfolgungen gegenüber den Elsässern im Zweiten Weltkrieg so etwas beinahe spielend erwirkbar war. Der französische Zentralismus hat die Elsässer niedergedrückt Elsässische, also deutsche Ortsnamen, sind verboten, zweisprachige Orts- und Straßentafeln undenkbar, rein deutschsprachige Zeitungen dürfen wohl in Paris, nicht aber im Elsaß erscheinen, und das am 31. Dezember 1975 durch den Staatspräsidenten kundgemachte Gesetz über die Verwendung der französischen Sprache gilt auch für das Elsaß. Das „Menschenrecht auf Muttersprache“ gilt im Elsaß nicht, und nur die Kirche ist, wie in Kärnten oder im Burgenland, bereit, für Zweisprachigkeit, also auch den Gebrauch der elsässischen Muttersprache, in ihrem Bereich einzutreten.

Nachdem schon rund zehn Jahre zuvor der katholische Pfarrklerus des Bistums Straßburg sich für die Zulassung des deutschsprachigen Religionsunterrichts in den Volksschulen und ecoles maternelles (Vorschulen) in einem beachtlichen Memorandum ausgesprochen hatte, erschien 1976 in Schirmeck die Dokumentation „La mission de l'eglise et les langues en Al-sace et en Lorraine thioise“ mit der Unterschrift von 104 katholischen und von 72 reformierten und lutherischen Pfarrern, mit der Forderung nach Zulassung der Muttersprache in Kindergärten und Elementarschulen, insbesondere für den Religionsunterricht. Seither ist es um diese Forderung, die nur eine solche nach Zweisprachigkeit ist, nicht mehr verstummt. Sie gipfelt in einem sieben Punkte umfassenden „Grundsatz für die Achtung der deutschen Sprachgemeinschaft durch die Kirche“.

Die Unterdrückung der deutschen Sprache in ihrer angeblich minderwertigen Mundartform hat dazu geführt, daß heute 80 Prozent der Fernsehzuschauer auf dem Land und 45 Prozent in der Stadt deutsche und schweizerische Programme ansehen, daß 202 Gemeinderäte den Antrag auf frühzeitigen Unterricht in Deutsch in den Volksschulen stellten und 65 Prozent der Volksschüler der entsprechenden Schulstufen im Unterelsaß und 76 Prozent im Oberelsaß 1976 von ihren Eltern zum privaten Deutschunterricht angemeldet wurden.

Wirtschaftlich gravitiert das Elsaß immer mehr über den Rhein, Deutsch wird immer mehr zu einer Sprache des Handelsverkehrs, wozu noch die nur wirtschaftlich zu sehende Regio Basi-liensis kommt. Das Erwachen der Elsässer findet Ausdruck auch in der Gründung recht beachtlicher Organisationen wie des Ren-Schickele-Kreises mit der zweisprachigen Zeitschrift „Les Cahiers du Bilinguis-me/Land un Sproch“, während von Frankfurt aus die Erwin-von-Stein-bach-Stiftung (Zeitschrift „Der Westen“) ins Land wirkt.

Daneben gibt es f reilich auch extrem deutschnationale Organisationen, die dem Elsaß nur schaden wie die „E. L. Bewegung“ (Zeitschrift „ELSA“), dann die von den Ergokraten unterstützte „Liga für freie Völker“ (Organ „Nouvelle Voix d'Alsace-Lorraine“, nicht zu verwechseln mit der seriösen „Voix d'Alsace-Lorraine/Stimme Elsaß-Lothringens), die „Association Territoirs Lorrains“ in Metz und die „Union christlicher Parteien Europas“ mit einem Nebenschwerpunkt in CSU-feindlichen Kreisen in Bayern („Das Rautenbanner“). Diese Gruppierungen, zu denen sogar eine „Elsässische Befreiungsfront“ (Front de Liberation Alsacien) kommt, werden offenbar als harmlos geduldet.

Wenn Frankreich nicht vor allem durch die Straßburger Universität, die als Instrument der Französisierung des Elsaß eine immer stärkere Rolle spielt, und überhaupt so autonomiefeindlich wäre, könnte es die Elsässer für sich gewinnen. Vor allem sollte Straßburg eine europäische Stadt werden, in der auch das deutsche Wort erlaubt ist (immerhin hört man schon wieder sehr viel Mundart). Auch sollte einmal eine Art elsässische Charta repräsentativ erstellt werden, wie dies soeben alle bretonischen Organisationen gemeinsam mit dem Regionalrat der Bretagne Anfang 1978 mit der „Charte Culturelle de Bretagne“ getan haben. An ihrer prekären, wenngleich sich bessernden Sprachgeltungslage sind die Elsässer nicht ganz schuldlos.

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