6643184-1958_07_14.jpg
Digital In Arbeit

Ein katholischer Mendes-France?

Werbung
Werbung
Werbung

Unlängst verkündete Ministerpräsident Gail-lard mit all seinem Charme des Jungen aus guter Familie einer Schar aufmerksamer Presseleute, daß Frankreichs Finanzsorgen für dieses Jahr behoben seien. Die amerikanische Anleihe sei höher ausgefallen, als man erhofft habe. Gleichwohl dürfe man nun in der „finanziellen Rigorosität“ (er vermied das Wort „austerite“) nicht nachlassen: es wäre eine Katastrophe, wenn man die großzügige Hilfe von jenseits des Atlantiks nicht zu einer unerbittlichen Weiterführung der wirtschaftlichen Sanierungsanstrengungen ausnütze. Bei diesen Worten richteten sich alle Blicke auf einen mit strengem, unbeweglichem Gesichtsausdruck neben ihm sitzenden Mann, dessen Scheitel durch das knappe blonde Haar mit dem Lineal gezogen zu

nao isdü ta:idiscj. . mA flu .nsrtsrt fimsäsg sein schien. „Welch kalter Bursche!“ flüsterte der französische Kollege neben uns. Es war der „starke Mann“ der gegenwärtigen Regierung: Finanz- und Wirtschaftsminister Pierre Pflimlin, der in diesem Amte nach zweijähriger Sorglosigkeit seiner Vorgänger (wovon man auch seinen jetzigen Chef Gaillard nicht ganz ausnehmen kann) wieder haushälterische Zucht einzuführen sucht.

Pflimlin ist kein Mann, der sich beliebt zu machen sucht. Wie hätte er sonst nach der Mißwirtschaft der vergangenen Kabinette gerade die Verantwortung für die ruinierte Kasse übernommen! Er ist der erste Finanzminister seit langen Jahren, der durch entschlossenes Kappen der Preissubventionen dem Volke klarzumachen wagte, daß das französische Preissystem

längst nur noch auf Illusionen beruhe. Die unausweichlich gewordene Teuerung durchzuführen, war offensichtlich eine Aufgabe, die ihm die Kollegen im Parlament gerne überließen. Den Ruf eines Mannes, der das einmal für richtig Erkannte auch -rücksichtslos durchzusetzen sucht, hat sich Pflimlin sogar gegenüber seiner eigentlichen Klientel bewahrt. Er gilt als Vertreter der Landwirtschaft; nachdem er 1946 zum ersten Male als Unterstaatssekretär an einer Regierung teilgenommen hatte, war er von 1947 bis 1951 durch alle wechselnden Regierungen hindurch „permanenter“ Landwirtschaftsminister. Als jedoch in diesen Wochen die Preise der Agrarprodukte zu bedrohlich stiegen, zögerte er nicht, sie durch massive Importe wieder herabzudrücken. Nun ist „petite prune“ (kleine Pflaume) also auch noch bei den Bauern der „schwarze Mann“, nachdem man ihn sonst schon für alle möglichen Uebel haftbar machen wollte, obwohl die von Pflimlin präsidierten Volksrepublikaner (MRP) seit Ende 1956 nicht mehr an der Regierung beteiligt waren. Aber mag Pflimlin wenig beliebt sein — respektiert wird er von jedermann.

Wie weit kommt ein französischer Staatsmann mit solchen Eigenschaften? In dieser Frage ist die ganze Problematik Pflimlins enthalten. Auch wenn der heute 51jährige in Roubaix im flandrischen Norden geboren wurde und sich

als Sohn einer französischsprechenden Familie die elsässische Mundart erst später erworben hat, ist er doch in seinem Wesen Elsässer durch und durch. Man darf sich darüber nicht durch den Umstand täuschen lassen, daß Pflimlin, obwohl er in Mülhausen zur Schule ging, nicht jene besondere Heimatverbundenheit zum „Garten“ am Rhein besitzt, die so manchem seiner Landsleute eigen ist. Schon der junge Mann fühlte sich der gesamtfranzösischen nationalen Rechten verbunden und stand nicht nur den autonomistischen, sondern auch den bloß föderalistischen Strömungen des Elsaß von Anfang an fern. Aber mit seiner energischen Zielstrebigkeit verkörpert er jenen Typus, der in der französischen Volksmeinung die „gens de l'Est“ (die Leute der Ostprovinzen) zu einer Art von „Preußen“ Frankreichs gestempelt hat.

Pflimlins Karriere besteht denn auch in einem jähen Voranpreschen, das immer wieder durch die Unbedingtheit seines Charakters unterbrochen wird. Großvater Pflimlin war noch Müller in einem Sundgaudorf, der Vater Industrieller im flandrischen Industriebecken, der Sohn wird Rechtsanwalt. Ein Rechtsanwalt allerdings, den l die kleinen Streitigkeiten des Alltags langweilen, der als überzeugter Katholik die Durchführung von Scheidungsprozessen verweigert und sich vor allem für die großen nationalökonomischen Zusammenhänge interessiert. Er schreibt Bücher über die elsässische Wirtschaft und 1938 zusammen mit Professor Laufenburger, „Die wirtschaftliche Struktur des Dritten Reiches“. Um die gleiche Zeit beginnt

leine Arbeit in den Landwirtschaftsverbänden. Als Dolmetscherleutnant wird er 1940 nach kurzer Gefangenschaft entlassen und verläßt sofort das Elsaß. In Vichy tritt er in führender Stellung ins Jugendministerium ein, das er aber ■ach wenigen Monaten, angewidert, ebenfalls verläßt. Den Rest des Krieges verbringt er als einfacher Untersuchungsrichter im Savoyischen, nnd er versteht es, in diesem schwierigen Amte eine Integrität zu wahren. Als er nach der Liberation einem der mit der „Säuberung“ betrauten Sondergerichte in Lothringen zugeteilt wird, sagt das seinem Charakter auch nicht zu und er nimmt bald den Abschied. Aber lange bleibt er nicht bloßer Rechtsanwalt in Straßburg. Der Erfolg der Listen der neuen katholischen Partei, des MRP, bei den .ersten Nachkriegswahlen im Elsaß trägt ihn zurück in die Politik. Und er ist in Paris recht bald in die kleine Gruppe der maßgebenden Staatsmänner vorgestoßen.

Das Rätsel an Pflimlin ist, weshalb ein Mann einer Fähigkeiten und seiner Unantastbarkeit noch nicht Ministerpräsident geworden ist. Immer wieder in den letzten Jahren stand er vor diesem letzten Sprung, und immer wieder hat ihm ein massiertes Sperrfeuer aus allen Fraktionen den Weg versperrt. Liegt es daran, daß er ein Elsässer ist (mit einem für Franzosen schwierig auszusprechenden - Namen)? Liegt es daran, daß er nicht nur gläubiger Katholik ist, sondern sogar ein „Konkordatskatholik“ — also ein Verfechter der dem Laizismus so verhaßten kirchlichen Sonderregelung für Elsaß-Lothringen (wo die Priester vom Staat bezahlt werden)? Ist es, weil er im Gerüche steht, in Algerien der Politik von Lacoste ein Ende machen zu wollen? Lenkt die Ministerialbüro-kratie im Hintergrund, die sich durch den per-

sönlichen „Brain-Trust“, den der mißtrauische Pflimlin in jedes von ihm verwaltete Ministerium mitbringt, in ihrer Selbstherrlichkeit bedroht fühlt? (Pflimlin ist nämlich kein Spielball für die hohen „clercs“ wie so mancher andere Minister.) Oder ist es ganz einfach Pflimlins Charakter, der schreckt? Nun, seine persönlichen Freunde versichern, daß er privat der herzlichste Mensch sein könne; seine äußere Strenge sei nur das „Korsett“, das er sich anziehe, um seiner Aufgabe gewachsen zu sein.

Wie dem auch sei — der „Anti-Pflimlin-Kpmplex“ ist genau so eine Realität der französischen Politik wie der „Anti-Mendes-Kom-plex“. Wie oft kann man hören: „Wir sind doch nicht so dumm, uns auch noch einen katholischen Mendes auf den Buckel zu laden.“ Und den Rest tut das Gerede, Pflimlin könne der „französische Adenauer“ werden. Den wissen die französischen Politiker als Garanten gegen eine antifranzösische Politik jenseits des Rheins durchaus zu schätzen. Aber in Paris...

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung