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„Spucknapf großer Nationen"

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Der elsässische Autonomismus entfesselt heute keine Stürme mehr, wie er dies früher zeitweise getan hat. Doch tot und begraben ist er nicht, und um das vielgestaltige Phänomen scheint das letzte Wort noch lange nicht gesprochen zusein.

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Der elsässische Autonomismus entfesselt heute keine Stürme mehr, wie er dies früher zeitweise getan hat. Doch tot und begraben ist er nicht, und um das vielgestaltige Phänomen scheint das letzte Wort noch lange nicht gesprochen zusein.

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Erst jüngst wieder erschien in Straßburg die französische Ubersetzung einer Abhandlung des amerikanischen Hochschullehrers Ph. Bankwitz über einige führende Autonomisten der Zwischenkriegszeit.

In eben diesem Zeitraum erfuhr der elsässische Autonomismus seine höchste Entfaltung; doch wäre es verfehlt, ihn für eine Erfindung de"r zwanziger Jahre zu halten. Seine Wurzeln reichen viel tiefer hinab in die elsässische Vergangenheit.

Zwar wird das Wort von der politischen Autonomie erst ab 1870 geläufig, im Gefolge der französischen Niederlagen und der zu gewärtigenden Annexion des Elsaß durch Preußen-Deutschland; den elsässischen Partikularismus jedoch, aus dem jede Art von Autonomiedenken sich nährt, den gab es bereits viel früher.

Ob dieser Partikularismus aus der Zersplitterung des Lahdes in unzählige Kleinherrschaften entstand oder ob er es war, der die Zersplitterung ermöglichte, bleibe dahingestellt; beide haben jedenfalls daran mitgewirkt, daß die El-sässer, im Gegensatz zu ihren schweizerischen Stammesbrüdern, nie zu eigener Staatsschöpfung fähig wurden.

Die Einverleibung in das französische Königreich im 17. Jahrhundert machte der Vielstaaterei ein Ende. Zwar durften die Herrschenden - wenn sie sich als brave Untertanen erwiesen -ihre Privilegien und Pfründen weiter genießen; von Macht nach außen hin war jedoch keine Rede mehr.

Selbständigkeitsvelleitäten wurden fürderhin nur noch im geistig-kulturellen Bereich geduldet, und auch das mit dem mehr als einmal offen ausgesprochenen Hintergedanken, die Zeit würde da schon abhelfen.

Bei den Intellektuellen des Landes, die nicht so gefügig waren wie der Adel und das städtische Bürgertum, und die noch nicht so richtig wußten, ob sie nun immer noch Deutsche oder bereits Franzosen waren, kam im 18. Jahrhundert der Begriff des Elsässertums auf, die Idee von einem Volk, dem die Geschichte die Rolle der Brücke und des Vermittlers zwischen zwei großen Kulturen zugedacht habe: eine Idee mit Zukunft, der aber die Kriege der Revolution und des napoleonischen Zeitalters zunächst den Weg verlegten.

Von da an ist es der Elsässer Schicksal, daß - wie Rene Schickele sagte -„jede Generation mit blutigen Köpfen von einer fremden Walstatt heimkehrt", und daß sie „ihre Toten auf allen Schlachtfeldern Deutschlands und Frankreichs liegen haben". Aber gleichzeitig wachsen nun auch die Volksmassen in die „grande nation" hinein und fühlen sich zunehmend eins mit den vor kurzem noch Fremden.

So stark aber war trotzdem der Drang nach restlosem Aufgehen in Frankreich, so tief in den Untergrund der Volksseele hatte sich die Lust am kulturellen Selbstmord bereits eingenistet, daß das politische Leben des Landes nach der Annexion durch das Deutsche Reich über lange Jahre hinaus vorwiegend im Protestieren und Abseitsstehen verlief.

Nur zögernd, dann allerdings mit echt elsässischer Hartnäckigkeit, erhob sich die Forderung nach innerer Autonomie, nach einem Selbstverfügungsrecht, das man dem französischen Staat auch im höchsten Taumel der Revolution nie abzuverlangen gemocht hatte. Und man gab sich auch dann nicht zufrieden, als die Verfassung von 1911 dem Reichsland eine zwar weitgehende, doch nicht die völlige Gleichstellung mit den übrigen Bundesstaaten brachte.

In diesem von Frankreich stark geförderten Kampf um die Autonomie ertönte vor allem der Ruf „Elsaß-Lothringen den Elsaß-Lothringern!", doch auch das Motiv von der Mittlerrolle im Blick auf einen deutsch-französischen Ausgleich wurde angerufen. Aussöhnung und Friede blieben aber zunächst Wunschträume.

Mit dem Wiederanschluß an Frankreich ging die im Ersten Weltkrieg stark eingeschränkte, im Oktober 1918 endlich (aber zu spät) ohne Vorbehalt zugestandene politische Autonomie endgültig verloren. Für autonome Gliedstaaten gab es im Schoß der einen und unteilbaren Republik keinen Platz.

Einige Wochen nur nach dem überschwenglichen Jubel der Novembertage begann daher auch schon das berühmte „elsässische Malaise", das erneut autonomistische, ja sogar neutralistische Bestrebungen auslöste. Die Föderalistenpartei, die eine selbständige Republik Elsaß-Lothringen anstrebte,wurde prompt als separatistisch erklärt und verboten. Auch sie hatte zur „Versöhnung" beitragen wollen.

Ihre stärkste Resonanz fand dann die autonomistische Bewegung um die Mitte der 20er Jahre. Im „Geist von Locarno" wurde nun das Brückenmotiv zu einem Leitmotiv für ihre verschiedensten Schattierungen, von den bescheidenen Vertretern einer regionalen Selbstverwaltung bis hin zu den radikalen Separatisten.

Hinzu kamen aber jetzt paneuropäische Überlegungen, und aus der „Briik-kenfunktion" heraus entdeckten sich die Elsässer ihre „europäische Berufung". Beide Ideen waren für Rene Schicket, den einzigen Dichter von wirklich europäischem Format, den das Elsaß seit vier Jahrhunderten hervorgebracht hat, grundlegend.

Doch er selbst mußte bereits vor fünfzig Jahren die Enttäuschung erleben, daß weder Frankreich noch Deutschland den „geborenen Vermittler" in Anspruch nehmen wollten, und er schrieb das bittere Wort nieder vom Elsaß als dem „Spucknapf zweier großer Nationen".

Europäisches Denken gemahnte die Franzosen wohl viel später noch an die Thesen der elsässischen Autonomisten vergangener Zeiten, so daß es auf sie immer irgendwie beklemmend wirken mußte, wenn ausgerechnet Straßburg zur europäischen Hauptstadt gemacht werden sollte, umso mehr, als auch die heutigen elsässischen Autonomisten viel von der europäischen Berufung ihres Landes reden.

Diesen letzteren dürfte es aber nicht entgangen sein, daß die mit dem Vertrag von 1963 erreichte deutsch-französische Verständigung ohne die Elsässer zuwege kam, und sie mögen sich manchmal fragen: was ist das eigentlich für eine Brücke, die, statt ihren Bogen über den Strom zu schwingen, als ungenutzter Steinhaufen am Ufer liegt und auf den Baumeister wartet?

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