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Japan steht politisches Erdbeben bevor

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Der unwahrscheinlichste Fall ist eingetreten: Japans früherer Vizepremier Shin Kanemaru (78) wurde am 6. März zusammen mit seinem früheren Sekretär Masahisa Haibara verhaftet. Pikant ist die Tatsache, daß die Anklage nicht vom Staatsanwalt ausging, sondern von der Steuerbehörde, die ihn wegen Hinterziehung von Einkommenssteuern in der Höhe von umgerechnet 11,8 Millionen Schilling bei einem Einkommen von mehr als 20 Millionen Schilling für das Jahr 1987 zur Verantwortung zieht - und zwar nur wenige Tage vor der Verjährung.

Haibara wird angeklagt, von seinem Einkommen von mindestens fünf Millionen Schilling 2,6 Millionen der Steuer verheimlicht zu haben. Hausdurchsuchungen bei Kanemaru und seinen Söhnen brachten Wertbriefe, Bargeld und Goldbarren im Wert von etwa 700 Millionen Schillig an den Tag.

Das Ausmaß der Bereicherung, Kanemaru schöpfte aus trüben Quellen, was typisch ist für die Verfilzung von Politik und Geschäft mit geheimen Beziehungen zur Mafia in Japan, erweckte selbst in diesem an Skandale gewöhnten Land Aufsehen und läßt den seit Jahren immer wieder erhobenen Ruf nach Reformen wieder lauter werden.

Kanemaru wurde in der ausländischen Presse immer wieder als der starke Mann Japans bezeichnet, weil diese nicht weiß, daß der letzte starke Mann Japans, Tokugawa Ieyasu, schon 1616 zu Grabe getragen wurde. Das hiesige System gewährt keinem starken Mann Spielraum, um eigene Initiativen zu entfalten und persönlich die Politik zu prägen. Japan ist kein modernen Staat, sondern funktioniert immer noch nach den Wertvorstellungen der alten Feudalgesellschaft.

Regiert wird durch Absprachen in Geisha-Häusern zwischen verschworenen Cliquen von Drahtziehern, die nützliche Kontakte vermitteln - nützlich vor allem für sie selbst und,ihre Gruppe. Kanemaru kam durch Zufall an die Führung der stärksten Fraktion der Regierungspartei nach dem Sturz Takeshitas, der in den Recruit-Skandal verwickelt war. Daß er die Spielregeln beherrschte, zeigte sich offenbar am Wachstum seiner weit verstreuten Bankkonten und Wertpapiere. Offensichtlich taucht hier nur die Spitze eines Eisberges auf. Sollte der Staatsanwalt eine gesunde Neugierde entwickeln, steht ein Erdbeben bevor, das die längst fällige Transformation Japans in einen modernen Staat einleiten könnte. Es gibt sogar Optimisten, die dies zu hoffen wagen.

Premier Miyazawa, dessen zweijähreige Amtsperiode als Parteichef und Ministerpräsident im September zu Ende geht, lächelt vielleicht Göttin Fortuna, denn am 9. Juni wird die Hochzeit des japanischen Kronprinzen mit großem Aufwand als Staatsfeiertag begangen werden und im Sommer wird Tokio auch die Gipfelkonferenz der sieben Industriemächte beherbergen. Da will doch niemand die Pferde mitten im Strom wechseln. Vielleicht winkt ihm deshalb die Chance auf Wiederwahl im September.

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