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Mangelnde Praxis

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Im Augenblick befindet sich die islamische Welt in einer Umbruchsphase, in der das ökonomische Wissen der traditionell geschulten Rechtsexperten nicht mehr ausreicht, um in einer immer dynamischer und arbeitsteiliger werdenden Welt überzeugende Antworten auf wichtige wirtschaftliche (Ordnungs-)Fra-gen zu geben. Ohne ökonomischen Sachverstand ist eine Anpassung des Rechtssystems (das auch die Rechtsgrundlagen der Wirtschaftsordnung umfaßt) nicht mehr möglich. Den Versuch, eine Verbindung zwischen modernem wirtschaftswissenschaftlichem Denken und den primären Rechts- und Erkenntnisquellen der islamischen Weltanschauung herzustellen, unternimmt man in der „Islamischen Ökonomik“.

Ob man mit der aus dem islamischen Recht übernommenen Methodik auch zu neuen wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnissen im säkularen Sinne gelangt, kann allerdings bezweifelt werden. Auch wenn einige von ihnen es nicht wahrhaben wollen, bedienen sich die islamischen Ökonomen der in der säkularen Wirtschaftswissenschaft entwickelten Sätze und Theorien, um zu zeigen, wie die ideale islamische Ordnung funktionieren könnte. Sie variieren lediglich gewisse Verhaltensannahmen und Rahmenbedingungen, nicht aber deren Kern. Zwischen dem, was die islamischen Ökonomen als Ideal fordern, und dem, was (wirt-schafts)politische Realität in den muslimischen Ländern ist, besteht nämlich fast immer eine enorme Diskrepanz. Daher fehlt es bislang noch an Beispielen, an denen man die Auswirkungen der „Islamischen Ökonomik“ auf die praktische Politik studieren kann. Als abschreckendes Beispiel wird immer wieder auf die „Mullahkratie“ im Iran hingewiesen, wo die Geistlichkeit die Politik okkupiert hat und mit dem Koran Tagespolitik betreiben will.

Liberale westliche Ökonomen fordern, daß die Wirtschaftspolitik in einem auf dezentraler Marktsteuerung beruhenden System nicht erratisch und willkürlich, sondern vorhersehbar und „konstant“ sein soll. Das bedeutet eine Absage an eine Wirtschaftspolitik der Experimente und des ungehemmten Interventionismus. Im Zentrum der Wirtschaftspolitik sollte die Ordnungspolitik stehen, die langfristig ausgerichtet ist und in die Zuständigkeit der Legislative (und nicht der Regierung) gehört.

Genau für eine solche Bindung der Staatsgewalt (der Exekutive, aber auch der Legislative) an ein übergeordnetes, von ihr nicht abänderbares Recht sprechen sich Befürworter einer islamischen Wirtschaftsordnung aus. Jegliche Politik sollte unter dem — im Kern zwar unwandelbaren, in der konkreten Interpretation und Anwendung jedoch zeitbezogen — göttlichen Recht (Shariah) stehen. Wird der Shariah der höchste Rang für jegliche Gesetzgebung und Politik zugemessen, so bedeutet das zwar, daß damit die islamischen Rechtsexperten ein besonderes Gewicht auch im politischen Leben erlangen; aber ihr Rat und ihre Sachkenntnis werden bei der Formulierung allgemeiner Regeln und grundsätzlicher Rechtssätze benötigt, nicht dagegen in der Tagespolitik, die sich im Rahmen von mit der Shariah zu vereinbarenden Gesetzen abspielt.

Die so viele westliche Beobachter schreckende Vorstellung einer parteipolitisch engagierten und politisierten Geistlichkeit in einer „Mullahkratie“ ist aber keineswegs die zwangsläufige Folge. Um eine Analogie herzustellen: Man stelle sich vor, daß bei uns die (akademischen) Fachvertreter der Christlichen Soziallehre die Aufgabe hätten, die Vereinbarkeit der Gesetzgebung des Parlaments mit den Grundsätzen der christlichen Weltanschauung zu überwachen. Daraus könnten die zahlreichen Gemeindepriester keineswegs für sich die Berechtigung oder gar den Auftrag ableiten, Tages- und Parteipolitik zu betreiben. Daß für sie unter bestimmten Umständen ein parteipolitisches Engagement naheliegt beziehungsweise sie in bestimmten Situationen geradezu zu solchem Tun gedrängt werden — wie vielleicht heute die Mullahs im Iran —, ist eine ganz andere Frage.

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