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Weg aus der Sackgasse

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Innerhalb der Oppositionsbewegungen der osteuropäischen Staaten tut sich ständig Neues: Jewgnij Ternovs-ky, in Paris lebender russischer Schriftsteller und FURCHE-Lesern von zahlreichen Beiträgen her schon bekannt, beschreibt hier die sich derzeit abzeichnende Verschmelzung der demokratischen und religiösen Bewegungen in der Sowjetunion. Vaclav Benda ist seit wenigen Tagen einer der drei neuen Sprecher der Charta 77. Benda, 34, Vater von fünf Kindern, der nach der Unterzeichnung der Charta seinen Beruf als Mathematiker aufgeben mußte und seither als Heizer arbeitet, ist der erste ausgesprochen katholische Sprecher der Charta 77. In diesem Beitrag, den wir der in Wien herausgegebenen „Palach Press Limited“ entnommen haben, beschäftigt er sich mit der gegenwärtigen Krise der Charta 77 und sucht nach einem Ausweg.

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Innerhalb der Oppositionsbewegungen der osteuropäischen Staaten tut sich ständig Neues: Jewgnij Ternovs-ky, in Paris lebender russischer Schriftsteller und FURCHE-Lesern von zahlreichen Beiträgen her schon bekannt, beschreibt hier die sich derzeit abzeichnende Verschmelzung der demokratischen und religiösen Bewegungen in der Sowjetunion. Vaclav Benda ist seit wenigen Tagen einer der drei neuen Sprecher der Charta 77. Benda, 34, Vater von fünf Kindern, der nach der Unterzeichnung der Charta seinen Beruf als Mathematiker aufgeben mußte und seither als Heizer arbeitet, ist der erste ausgesprochen katholische Sprecher der Charta 77. In diesem Beitrag, den wir der in Wien herausgegebenen „Palach Press Limited“ entnommen haben, beschäftigt er sich mit der gegenwärtigen Krise der Charta 77 und sucht nach einem Ausweg.

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Die Charta 77 erreichte mindestens zwei beachtenswerte Erfolge: Sie vereinigte eine unglaublich breite Palette von politischen Anschauungen und Staatsbürger-Mentalitäten und bewies, im Grunde auf dem Boden der Legalität verbleiben zu können. Für diese Erfolge büßte sie damit, daß sie gleich von Anfang an in eine schizophrene Situation geraten ist.

Einerseits sind wir uns alle - trotz der unterschiedlichen Einschätzung der Konsequenzen unserer Kritik und trotz noch größerer Unterschiede in den Vorstellungen über eine mögliche Besserung - in einer negativen Bewertung des Systems und des Funktionierens der politischen Macht einig. Anderseits handeln wir so, als ob wir nicht wüßten, daß die Beteuerungen der politischen Macht bezüglich ihrer guten Absichten und der gesetzlichen Bestimmungen, mit denen sie ihre Totalität scheinbar begrenze, ein rein propagandistisches Mäntelchen sind. Solch ein „Beim-Wort-Nehmen“ ist an und für sich ein kluges Manöver.

Nichtsdestoweniger - bei allem Respekt für diese Klugheit - kann solch ein Vorgehen keine mobilisierende Wirkung erreichen, sich nicht gegen die Lüge verteidigen, wenn es nicht imstande ist, die Kluft zwischen den bereits genannten Positionen zu überwinden.

Der Charta 77 gelang es vorübergehend - aber mit durchschlagendem Erfolg - diese Spaltung durch eine besonders starke Betonung der ethischen Aspekte und eine, Höherbewertung der moralischen gegenüber der politischen Position zu beseitigen. Diese anfängliche Lösung hielt jedoch nicht an, und heute lastet dieses ursprüngliche Dilemma um so schwerer auf uns. Die Gründe für das Versagen sind etwa folgende:

• der Tod von Professor Jan Patoc-ka, der zweifelsohne „spiritus mo-vens“ dieser Lösung war;

• das Klügerwerden der poütischen Macht, die schließlich einsah, daß sie mit ihrer wütenden Kampagne das politische Problem in ein moralisches verkehrt und damit, ohne es zu wissen, unsere Waffen angenommen hatte. Von diesem Moment an herrscht um die Charta 77 Stille, und die Macht beschränkt sich auf das Abwürgen im Dunkeln (der offizielle Ausdruck lautet „Beschneidung der Ränder“).

Die moralische Position wurde zu abstrakt postuliert, ohne positiven Inhalt und Wirkungsrichtung. Die abstrakte moralische Position ist aber nur eine Geste, die zwar hochwirksam sein kann, aber nur für einige Wochen und Monate. Zum Beweis meiner Behauptung kann ich eine Erscheinung anführen, die oft unter den Unterzeichnern der Charta 77 anzutreffen ist: der Ubergang von einem' fast ekstatischen Freiheitsgefühl, hervorgerufen durch die Unterschrift, zu einer allmählichen Desil-lusionierung und tiefen Skepsis.

Ich unterschätze die konkrete Wirkung der beiden ersten Gründe nicht, aber als den entscheidenden und ausreichenden Grund sehe ich den dritten an. Auf diese Diagnose stütze ich meinen Strategievorschlag, der uns allmählich aus unserer Sackgasse herausführen soll.

Diese Strategie versuchte ich in zwei Schlagworten zusammenzufassen: auch weiterhin von der moralischen Verpflichtung und Sendung als dem einigenden Moment und der dynamischen Quelle der Kraft auszugehen und dieser Dynamik ein Wirkungsfeld und eine bestimmte positive Perspektive bei der Formierung einer parallelen „polis“ - also einem parallelen politischen Leben -zu geben.

1. Die moralische Befugnis und die Verpflichtung des Staatsbürgers, an einer Reform der uns alle betreffen-

den Verhältnisse teilzunehmen, steht über jedem Zweifel. Die Charta 77 leitete von Anfang an ihr öffentliches Mandat von dieser Quelle ab. Diese Quelle als ein gemeinsamer Ausweg bedeutete die Überwindung der obenerwähnten Zweideutigkeit und war ein Garant für die Einigkeit, die Zusammenarbeit in Toleranz und bis zu einem gewissen Grad auch für die Standhaftigkeit.

Ich finde keine andere Formel, die alle diese Funktionen erfolgreich ersetzen könnte; überdies hängt diese moralische Position in den Augen der Öffentlichkeit und in den Augen der Mehrzahl der Unterzeichner der Charta 77 so eng mit der Charta 77 zusammen, daß keine andere Formel einen legitimen Anspruch auf Kontinuität erheben könnte. Ich frage nicht, ob man von dem moralischen Aspekt ausgehen sollte, sondern wie man ihn wieder aufrüttelnd und mobilisierend machen und ihm eine Dauerwirkung verleihen könnte, das heißt, welche konkreten Bestrebungen beziehungsweise welches positive Programm in Zukunft auf ihm basieren könnte?

Wenn ich richtig verstanden habe, was sich unter den Etiketten „radikales“ und „retardierendes“ Konzept versteckt, kann ich keines von beiden für eine erfolgversprechende Antwort auf die angeführten Fragen halten. Der Bürger kann eine moralische Verpflichtung darin sehen, daß er sich mit einer schlechten politischen

„Ich frage nicht, ob man von dem moralischen Aspekt ausgehen sollte, sondern wie man ihn wieder aufrüttelnd und mobilisierend machen könnte.“

Macht in einen Konflikt einläßt und sich für ihre Vernichtung einsetzt. Nichtsdestoweniger ist unter den gegebenen Umständen diese Verpflichtung insoweit selbstmörderisch, als sie in keinem vernünftigen ethischen System eine allgemeine Anerkennung beanspruchen kann.

In analoger Weise kann sich der Bürger moralisch verpflichtet fühlen, die Situation reaüstisch einzuschätzen und durch Kompromisse und Reformen zumindest eine teilweise Besserung zu erreichen versuchen. In Anbetracht der ethischen Parameter der gegenwärtigen politischen Macht kann sich so eine Handlungsweise nicht darauf verlassen, daß ihre moralischen Motive allgemein einsichtig sind und als moralischer Appell verstanden werden.

2. Ich versuche einen dritten Weg zur Verbesserung der bestehenden

Verhältnisse in der „polis“ aufzuzeigen. Die meisten Strukturen, die mit dem Leben der „polis“ so oder so verbunden sind, sind entweder vollkommen unzureichend oder sogar schädlich. Darum schlage ich vor, unsere Bestrebungen dahingehend zu vereinen, um allmählich parallele Strukturen zu schaffen, die mindestens in beschränktem Maße fähig wären, die nicht vorhandenen gemeinnützigen und unbedingt erforderlichen Strukturen zu ersetzen.

Dieser Plan erfüllt bis zu einem gewissen Grade die Forderungen der „Reformisten“ und der „Radikalen“. Er führt nicht zwangsläufig zu einem unmittelbaren Konflikt mit der poütischen Macht und ist dabei nicht mit Illusionen - was einem Ausweg aus den gegebenen Verhältnisses durch „kosmetische Operationen“ betrifft -belastet.

Die Schlüsselfrage, die die Lebensfähigkeit des Systems betrifft, wird dabei offen gelassen: Es steht fest, daß sein Erfolg - sogar im Falle eines Teilerfolges - die offiziellen Strukturen unter Druck setzen würde, der sie notwendigerweise entweder Zersetzen oder die Regeneration dieser Strukturen in Gang setzen würde (je nachdem, ob wir die Diagnose der „Radikalen“ oder der „Reformisten“ akzeptieren).

Dieser Plan ist offensichtlich für beide Flügel als zu „aufklärerisch und politisch naiv“ unannehmbar. Doch wir sind alle zusammen in der Charta 77 , die unbestreitbar eine politisch naive Tat darstellt - so wie jeder Versuch, Politik aus der Moral abzuleiten.

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