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Weg vom Patriarchen…

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Wie eine Eislandschaft unter der späten Frühlingssonne ihren ursprünglichen Charakter verliert, die gewohnten Formen auflöst, definiert Frankreich — nach den Worten Pompidous eine Witwe geworden — zum Jahresende seinen politischen Weg. Dies gilt für die gaullistische Sammelpartei, die ohne Ideologie, aber im Besitz der Macht (287 Parlamentssitze von 487) einen eigenen Standpunkt orten muß.

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Wie eine Eislandschaft unter der späten Frühlingssonne ihren ursprünglichen Charakter verliert, die gewohnten Formen auflöst, definiert Frankreich — nach den Worten Pompidous eine Witwe geworden — zum Jahresende seinen politischen Weg. Dies gilt für die gaullistische Sammelpartei, die ohne Ideologie, aber im Besitz der Macht (287 Parlamentssitze von 487) einen eigenen Standpunkt orten muß.

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Die Gaullisten waren bisher nicht gewohnt, Willensäußerungen zu entwerfen und im Dialog mit der Sta-atsführung die Positionen einer Mdhnheitapartei einzunehmen. Die gaullistische Sammelpartei UNR, heute UDR, wunde nach dem Mai 1958 von Jacques Soustelle, dem seinerzeitig treuen Leutnant Charles de Gaulles in London, begründet und sollte die Maßnahmen des Generals der Nation interpretieren. Die UDR gruppiert verschiedenste Lager. Die Mehrheit kam unbestritten aus dem katholisch-konservativen Raum, verstärkt durch die einstigen christlichen Demokraten Elsaß-Lothringens, der Bretagne und Normandie. Die Unterschiede zwischen konservativ- liberal. dem Kerngaullismus und dem linken Flügel haben sich seit der Wahl Pompidous akzentuiert. Alle Anzeichen bezüglich der Entwicklung der gaullistischen Partei sind eindeutig: die UDR mausert sich zu einer modernen konservativen Voilkspartei heraus, im wesentlichen von aktiven Katholiken getragen. Ein kleiner Kreis um den Ministerpräsidenten Chaban-Delmas ist sich allerdings der Mutierungen im gesellschaftlichen Bild des Landes bewußt und strebt ein .zugkräftiges Programm sowie eine Ideologie an, die den Menschen der siebziger Jahre anziehen. Diese Bemühungen, Unter dem Begriff „die Neue Gesellschaft“ zusammengefaßt, haben konstruktive Ansätze bewiesen. So wurde durch eine Reihe von Gesetzen, -die ab 1. Jänner 1971 rechtsgültig werden, die Regionalisierung in die Wege geleitet. Der Ministerpräsident konnte eine „stille. Revolution“ proklamieren. Seit den Königen, den Jakobinern und Napoleon stöhnt Frankreich -unter einem starren Zentralismus., der die Lebenskräfte der Provinzen -aufsaugt und nach Paris transferiert. Die sozialpolitischen Initiativen werden zwar vom harten Kenn der kommunistischen Gewerkschaften nicht vollends anerkannt, aber zumindest respektiert. Die Ausgabe von Volks aktien in den verstaatlichten Automobilwerken Renault, der Übergang des wöchentlichen Lohnsystems zur monatlichen Gehaltszahlung für Arbeiter, die gesetzliche Verankerung gewerkschaftlicher Rechte in den Betrieben hat ein sozial günstiges Klima geschaffen, wie es am Höhepunkt -der gaullistischen Herrschaft nie bestanden hat.

Die gaullistische Partei verfügt über einen weiteren und gewichtigen Trumpf. Es existiert praktisch keine echte Opposition. Ministerpräsident

Ohaban-Dėtoas hat iihr Fehlen mehrfach aufrichtig bedauert. Im Parlament können höchstens hundert Abgeordnete den Oppositionsparteien zugezählt werden. Seit 1965 diskutiert die niditkommunisttsdhe Linke, zusammengesetzt aus der geschrumpften ‘sozialistischen Partei, der Konvention der politischen Klubs — Sprachrohr Mitterrand — und den Radikalsozialisten, über eine

AUjanz, die entweder mit den Kommunisten oder dem Zentrum eingegangen werden -soll. Alle Überlegungen in dieser Hinsicht erwiesen sich höchst problematisch. Auch geeichte Sozialisten zögern, die mehr oder weniger zutage tretenden Versionen einer Volksfront anzuerken- nen. Die radikal-sozialistische Partei bestätigt mehrheitlich einen militanten Antikommunismus. Gelegentlich finden Zusammenkünfte zwischen Sozialisten und Kommunisten statt, die mit einer negativen Bilanz enden. Die Kommunisten versuchen ihre isolierte Position zu verlassen und der Öffentlichkeit ein beruhigendes Image zu geben.

Die gewaltigen Mutierungen Frankreichs schreiten unaufhaltsam weiter. 600.000 Bauern verlassen jährlich ihr Land, -suchen Wohnung Und Arbeit in den Städten und verändern das Gleichgewicht, das Frankreich zu einer jahrhundertealten

Stabilität verhalf. Die Entscheidungen werden daher im Sektor der sozialpolitischen Strukturen fallen. Staatschef Pompidou will sichtlich mit dem Ziele in die Geschichte eingehen, Frankreich zur modernen Industrienation erhoben zu haben.

Wenden die Ansätze zur Regionalisierung, Partizipienung und Humanisierung der Gesellschaft Erfolg haben oder drohen neue Ausbrüche?

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