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Ruf nach der Persönlichkeit

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Die Entwicklung der Technik drängt neuerlich zur Persönlichkeit. Die Verantwortung des einzelnen, das fachliche Wissen werden im wirtschaftlichen Rahmen wieder sehr groß geschrieben. Dagegen haben die gesellschaftspolitischen Kräfte nicht die gleiche Richtung genommen. Sie aber sind es, die am meisten den Rhythmus der Verfassung bestimmen und fördern. An Stelle der Gruppe und des Teams wird die Herrlichkeit verantwortungsloser Kräfte gepriesen. Die echte Demokratie braucht ein weites und tiefes Rekrutierungsfeld, um daraus die Meister der politischen Kunst und die notwendigen Fachleute für die Bedürfnisse der Industrie zu finden.

Die christliche Demokratie fördert in keiner Weise derzeit die Persönlichkeitsbildung. Vielfach wird eine Art Elitebildung nach unten hin in die Wege geleitet. Dem nichtdenkenden Politiker werden Führungsstellen in der Industrie und die Leitung der Massenmedien anvertraut.

Umkehr?

Da aber nun einmal das Wort Reform in unseren Breitegraden eine so vielseitige Bedeutung erlangt hat, werden langsam auch die Grundzüge einer Renaissance der christlichen Demokratie sichtbar, die von folgenden Grundsätzen und Überlegungen auszugehen hätte:

• Die christliche Demokratie hätte alles zu unternehmen, um die wahre Persönlichkeit, die im Bewußtsein ihrer Anziehungskraft konstruktives Denken ausstrahlt, als Grundlage jedes politischen Handelns in den Vordergrund zu rücken. Die christlich-demokratischen

Parteien müssen eine konsequentere Personalpolitik einleiten. Nicht die Zugehörigkeit zu einem Clan entscheidet, sondern ausschließlich persönliche und fachliche Qualitäten und der Wille, echte Verantwortung zu übernehmen. Die Generation des zweiten Weltkrieges wurde im wesentlichen durch die christlich-demokratischen Parteien von den politischen Geschehen ausgeschaltet. Sie muß endlich das entsprechende Mitspracherecht erhalten, selbst unter Opferung veralterter und nur zu bequemer Statuten.

• Eine echte ideologische Diskussion hat, ausgehend von den bisherigen Erkenntnissen, zu einer Erneuerung des politischen Denkens zu führen. Die christliche Gesellschaftsordnung im Atomzeitalter sollte zum Mittelstück derartigen Meditierens erwachsen.

• Die christliche Demokratie bekenne sich zu einer Sozialordnung, die den Menschen in den Mittelpunkt wirtschaftlichen Denkens setzt. Die Berücksichtigung und Beachtung der Würde des arbeitenden Menschen sind oft wichtiger als uferlose Sozialphantasien, die mit den Tatsachen nicht in Einklang zu bringen sind. Weg vom schrankenlosen Materialismus? Sicherlich! Aber hüten wir uns auch vor dem so gefährlichen Hinauflizitieren der Forderungen, die jede konstruktive Wirtschaftspolitik in ein Chaos stürzen. Neue Ideen zum betrieblichen Leben und zur Eigentumsbildung müssen gefunden werden. Die bereits antiquierten oder aus anderen Situationen entstandenen Vorstellungen sind zu revidieren, der letzten Entwicklung anzupassen oder als unnützer Ballast fallenzulassen.

• Die christlichen Demokraten waren die ursprünglichen Vorkämpfer für die Einheit Europas. Seit Jahren sind von dieser Seite keine neuen Initiativen unternommen worden. Alle Anstrengungen neueren Datums gehen von der streng liberal denkenden Bürokratie Prof. H a 11 s t e i n s aus, von der Dynamik bedeutender Wirtschaffs-gruppYn oder von einzelnen Persönlichkeiten wie de Gaulle. Es müssen eine echte Bestandsaufnahme und ein origineller Beitrag zu dem Thema, das als Schicksal der Gegenwart anzusprechen ist, „das integrierte Europa“, unternommen werden.

• Die christliche Demokratie ist an sich eine universelle Bewegung und kann auch jungen Staaten als Vorbild dienen. Diese bekennen sich jedoch fast ausschließlich zum Sozialismus in verschiedenen Formen, von Ausnahmen wie S e n g h o r abgesehen. Waren es Fehler dieser Staaten — oder war es vielmehr eine Unterlassung der christlich-demokratischen Parteien? Die Routine, die Schlamperei und die Abneigung, neue Wege zu betreten, siegten über die kühnen Ansätze.

Bidault, der Gejagte, als Symbol der christlichen Demokratie und des Niederganges oder Besinnung auf die Grundsätze und damit der Alternative: Persönlichkeit oder Apparatschik? Diese Frage stellt sich der christlichen Demokratie. Aber sehr lange werden diese Parteien nicht mehr zuwarten können, um die Substanz ihrer politischen Kraft zu bewahren und weiter auszubauen.

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