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Ist der Kassenkrieg notwendig?

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Am 27. September 1960 erfolgte durch die Vollversammlung der Ärztekammer für Wien die vorsorgliche Vertragskündigung. Die näheren Umstände, die zu dieser Vertragskündigung geführt haben, ollen in der folgenden Darstellung in ihren wesentlichen Punkten klargelegt werden.

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Am 27. September 1960 erfolgte durch die Vollversammlung der Ärztekammer für Wien die vorsorgliche Vertragskündigung. Die näheren Umstände, die zu dieser Vertragskündigung geführt haben, ollen in der folgenden Darstellung in ihren wesentlichen Punkten klargelegt werden.

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Seit Jahren besteht für die praktischen Ärzte eine Honorarordnung, die für den praktischen Arzt pro Schein für das Quartal eine Vergütung von 33.88 S vorsieht. Dieser Betrag kommt jedoch nicht echt zur Auszahlung, sondern durch Vertragsbestimmungen sind die praktischen Ärzte verpflichtet, aus dieser ihnen zustehenden, Vergütung von 33.88 S die erbrachten Sonderleistungen, die physikalische Therapie und die Weggebühren, zu bezahlen, so daß eine effektive Vergütung von 32.17 S pro Schein und pro Quartal verbleibt. Die physikalische Therapie darf nur von den praktischen Ärzten in den Randgemeinden erbracht werden (Kurzwellen und so weiter), bezahlt muß sie aber von allen Ärzten werden, und es ist den Versicherten und der Bevölkerung nicht bekannt, daß alle praktischen Ärzte, auch jene, denen es nicht gestattet ist, die physikalische Therapie durchzuführen, diese laut derzeitigem Vertrag bezahlen müssen. Die Ärzteschaft ist der Meinung, daß es eine unmoralische Vertragsbestirnmung ist, daß Leistungen von den Ärzten verlangt werden, die Gebietskrankenkasse die Bezahlung dieser Leistungen jedoch den Ärzten anlastet. Die Ärzte sind vielmehr der Meinung, daß die physikalische Therapie, die Weggebühren und die Sonderleistungen nicht durch sie selbst durch Abzug von -ihrem Fallpauschale gezahlt werden sollten, sondern daß für diese ihre Leistungen die Gebietskrankenkasse aufzukommen habe.

Wenn dieses Beispiel auf die Arbeiter und Angestellten angewendet werden würde, ergebe sich die groteske Folgerung, daß die getätigten Überstunden nicht vom Dienstgeber, sondern durch einen Abzug vom Lohn aller Angestellten und Arbeiter bezahlt würden. Einer solchen Regelung der Bezahlung der Überstunden bei den Arbeitern und Angestellten würde wohl kaum eine Gewerkschaft beipflichten, es ist aber auch kaum anzunehmen, daß ein Dienstgeber jemals auf einen solch grotesken Vorschlag verfallen würde.

Die Ärzte sind der Meinung, daß kein Nationalrat, kein Arbeitgebervertreter aus der Industrie, kein Landtagsabgeordneter und kein Gewerkschaftsvertreter irgendeiner politischen Partei eine solche Ansicht laut kundtun dürfte. Was für die Arbeiter und Angestellten recht ist, muß für die Ärzte billig sein, was man den Arbeitern und Angestellten im Traum nicht zumutet, darf man den Ärzten in der Tat nicht anbieten. ^

Lediglich um diese von den Ärzten als unmoralisch empfundenen Vertragsbestimmungen im künftigen Honorarvertrag zu beseitigen, wurde der Vertrag mit der Wiener Gebietskrankenkasse gekündigt. Darüber hinaus stellt jedoch die Wiener Gebietskrankenkasse die Forderung, daß von den praktischen Ärzten Hausbesuche erbracht werden, um Spitalseinweisungen zu ersparen. Obwohl dieser Wunsch der Gebietskrankenkasse auch von den Ärzten voll unterstützt wird, ist die Gebietskrankenkasse der Meinung, daß die Bezahlung dieser Hausbesuche auch im neuen Honorarvertrag ausschließlich von > den Akten geleistet wird, ebenfalls wieder durch einen erheblichen Abstrich von der Vergütung für den Schein. Obwohl die Ärzte, um diesen Plan zu realisieren, ebenfalls zu einem weitgehenden Entgegenkommen bereit wären — einer zusätzlichen Verteilung von drei Millionen Schilling —, ist das derzeitige Angebot der Gebietskrankenkasse für die Ärzte vollständig unannehmbar. Die Gebietskrankenkasse bietet drei Millionen Schilling insgesamt an, womit bestenfalls die oben erwähnten Sonderleistungen bezahlt werden könnten; alle übrigen Leistungen, wie physikalische Therapie und Weggebühren, seien von den Ärzten weiterhin zu bezahlen. Darüber hinaus würde eine zusätzliche Belastung für die Ärzte von insgesamt 7,5 Millionen Schilling entstehen.

Gerade von den drei Obmännern der Wiener Gebietskrankenkasse hätte die Ärzteschaft ein volles Verständnis für ihre maßvollen Forderungen erwartet. Der 1. Kassenobmann, Herr Dominik Hummel, Metallarbeitersekretär, müßte aus seiner Erfahrung bei den Metallarbeitern die Forderungen der Ärzte voll unterstützen. Der 2. Kassenobmann. Herr Dr. Theodor Schneider, Generalsekretär der Indu-strjellenvereinigung a. D. und der Volkspartei nahestehend, wird in seiner langjährigen Tätigkeit beim Industriellenverband keinen einzigen Unternehmer finden, der seine Arbeitnehmer ähnlich den Ärzten entlohnen dürfte. Der 3. Kassenobmann, Bundesrat Otto S k r i t e k, müßte als sozialistischer Bundesrat die Forderungen der Ärzteschaft voll und ganz unterstützen.

Die vorsorgliche Vertragskündigung, die frühestens im April rechtswirksam werden kann, ist nach Ansicht der Ärzte bei Abschluß einer befriedigenden Honorarordnung jederzeit rückgängig zu machen. Da die Verhandlungen von beiden Seiten weitergeführt werden und ein Großteil der Verhandlungspartner an einer Lösung dieses Fragenkomplexes interessiert ist, müßte es möglich sein, den gesamten Fragenkomplex um die Kassenärzte einer befriedigenden Lösung für beide Vertragspartner zuzuführen. Eine Voraussetzung wäre dazu erforderlich: daß die drei Obmänner der Wiener Gebietskrankenkasse ihre politischen Grundsätze, die sie im Alltag jederzeit zu vertreten bereit sind, auch in den Verhandlungen mit den Ärzten nicht verleugnen.

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