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Digital In Arbeit

Angst vor „Dunkelziffer“

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Die sehr scharf und in Sorge „um gesellschaftspolitische Veränderungen“ veröffentlichte Stellungnahme der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft zum Plan von Vizekanzler und Sozialminister Häuser, die Arbeiter durch Lohnfortzahlung im Krankheitsfall den Angestellten gleichzustellen, hat einen neuen Konflikt heraufbeschworen.

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Die sehr scharf und in Sorge „um gesellschaftspolitische Veränderungen“ veröffentlichte Stellungnahme der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft zum Plan von Vizekanzler und Sozialminister Häuser, die Arbeiter durch Lohnfortzahlung im Krankheitsfall den Angestellten gleichzustellen, hat einen neuen Konflikt heraufbeschworen.

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Angestellte, die erkranken, erhalten je nach Dienstalter bis zu zwölf Wochen lang von ihrem Dienstgeber den vollen Gehalt weiterbezahlt. Darüber hinaus können sie weitere vier Wochen mit der Bezahlung des halben Gehalts rechnen und erst dann sind sie voll auf das Krankengeld der Krankenkasse angewiesen.

Anders ist die Situation bei den Arbeitern. Bereits ab dem dritten Tag der Krankheit zahlt nicht mehr der Arbeitgeber, sondern die Krankenkasse. Nun macht aber das Krankengeld nur 50 Prozent des üblichen Lohns aus, ab dem 43. Tag einer Krankheit 60 Prozent. Der Arbeiter wäre so wesentlich schlechter gestellt als der Angestellte, der ja bis zu drei Monate seinen vollen Gehalt weiterbezieht.

Nun sehen aber die meisten Kollektivverträge Betriebszuschüsse vor: je nach Art des Betriebes muß der Arbeitgeber dem erkrankten Arbeiter einen Zuschuß zum Krankengeld der Krankenkasse gewähren. In der Praxis führt das dazu, daß auch der kranke Arbeiter nahe an seinen zuletzt bezahlten Lohn, nämlich bis zu 99 Prozent, herankommt. Dennoch ist der Arbeiter schlechter gestellt als der Angestellte. Abgesehen von der Tatsache, daß er eben nur maximal 99 Prozent seines letzten Lohnes erhält, muß er auch höhere Sozialversicherungsbeiträge leisten als der Angestelite. Denn die Krankenkasse muß beim kranken Arbeiter bereits am dritten Krankheitstag mit 50 Prozent des Lohns einspringen, während bei dem Angestellten frühestens nach zwölf Wochen die Krankenkasse auf den Plan zu treten hat. So zahlt auch der Angestellte 4,8 Prozent seiner Gehaltssumme an die Sozialversicherung, der Arbeiter muß jedoch 7,3 Prozent bezahlen. Ab 1. Jänner des kommenden Jahres werden die Beiträge um je zwei Zehntel Prozentpunkte nach oben angehoben, wodurch dann für den Angestellten fünf, für den Arbeiter 7,5 Prozent zu leisten sind. Denn ganz allein müssen weder Arbeiter noch Angestellte für die Kran-kenkassenbeiträge aufkommen. Der Arbeit- und Dienstgeber ist nämlich verpflichtet, 50 Prozent dieser Beitragssumme zu bezahlen.

Der Entwurf des Sozialministeriums, der im Herbst veröffentlicht werden soll, und frühestens mit dem 1. Jänner des kommenden Jahres eine Neuregelung herbeiführen könnte, scheint nun in Anlehnung an eine entsprechende Regelung in der Bundesrepublik Deutschland die völlige Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten herbeiführen zu wollen. In der Bundeswirtschaftskammer

zeigt man sich besorgt: besorgt vor allem deshalb, weil in der Bundesrepublik durch diese Maßnahme die Krankenstände bei Arbeitern sprunghaft in die Höhe geschnellt seien.

Offensichtlich traut man den Arbeitern weniger Arbeitsmoral zu als den Angestellten: dort spricht nämlich niemand von „Dunkelziffern“ — also von Angestellten, die sich zwar im Krankenstand befinden, aber nicht wirklich krank sind.

Es ist klar, daß die Krankenkassen mit ihrem Apparat die Krankheit eines Arbeiters besser überprüfen können, als das beispielsweise der Dienstgeber kann. Fällt aber die Last der Bezahlung des Krankengeldes von den Kassen auf den Dienstgeber, so würde, nach Ansicht der Bundeskammer, das Interesse an der Überprüfung des Kranken auf Seiten der Krankenkassen merklich geringer werden.

Vor allem kleinere und Kleinstbetriebe könnten, so meint man im heimischen Unternehmerverband, durch diese Neuregelung in erhebliche Schwierigkeiten gebracht werden. Man verweist in diesem Zusammenhang auf den kleinen Handwerksbetrieb, in dem beispielsweise ein Unternehmer nur drei Arbeiter beschäftigt. Sollten zwei von ihnen krank werden, müßte der Unternehmer wahrscheinlich seinen Betrieb einstellen und darüber hinaus noch die vollen Löhne weiterbezahlen.

In der Bundeskarnmer sieht man daher eine andere Lösung als zumutbarer an: die Neuregelung sollte keine arbeitsrechtliche, sondern eine Sozialversicherungslösung bringen. Die bisherigen Krankenkassenbeiträge für Arbeiter sollten in einen Topf eingezahlt werden, darüber hinaus noch die in den Kollektivverträgen vorgesehenen Betriebszuschüsse. Durch diese Beiträge sollte eine Art „Krankengeldversicherung“ gebildet werden, die die Bezahlung des Lohns im Krankheitsfall voll übernimmt. In der Praxis würde das eine Beibehaltung des Kontrollrechts der Krankenkassen, aber auch eine Beibehaltung der höheren Beiträge für Arbeiter bedeuten. Die höheren Beträge würden aber sowohl Arbeitnehmer wie Arbeitgeber treffen.

Jedenfalls läßt die Frage auch einen ÖVP-internen Konflikt erwarten: der ÖAAB ist für den Häuser-Vorschlag, der Wirtschaftsbund für die Kammer-Ablehnung.

Welche Lösung die Neuregelung also bringen wird, ist noch unklar — sicher ist aber, daß die Diskriminierung der Arbeiter gegenüber den Angestellten in der einen oder anderen Form beseitigt werden sollte.

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