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Hürden für Humanprogramm

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Bundeskanzler Dr. Kreisky hatte im Nationalratswahlkampf seine Vergleichsländer: einmal Schweden, einmal die Schweiz. Alle jene, die in Osterreich krank sind, hoffen aber nun, daß sich Kreisky und sein Minderheitskabinett nicht an diesen ausländischen Beispielen orientieren. Ja sogar der professionelle österreichische „Pulverlschlucker* müßte sonst um sein Vergnügen bangen.

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Bundeskanzler Dr. Kreisky hatte im Nationalratswahlkampf seine Vergleichsländer: einmal Schweden, einmal die Schweiz. Alle jene, die in Osterreich krank sind, hoffen aber nun, daß sich Kreisky und sein Minderheitskabinett nicht an diesen ausländischen Beispielen orientieren. Ja sogar der professionelle österreichische „Pulverlschlucker* müßte sonst um sein Vergnügen bangen.

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In dem von Sozialdemokraten vorbildlich gelenkten Sozialstaat Schweden gibt es bis heute keine Regelung für eine Lohnfortzahlung, es müssen die Arztkosten zu 75 Prozent vom Kranken ersetzt werden, und es gibt außerdem keine Erstattung bei Medikamenten bis umgerechnet dreißig Schilling, nur 50 Prozent bei Medikamenten bis 80 Schilling und erst darüber hinaus die volle Vergütung. Auch in der Schweiz gibt es kein nationales Krankenversicherungsgesetz. Für die Lohnfortzahlung besteht ein Anspruch „für eine verhältnismäßig kurze Zeit“, was in der Praxis bedeutet, daß sie ein bis zwei Monate läuft. Ebenso gibt es beim Krankengeld keine ähnliche Sicherung wie in Österreich. Arztkosten und Medikamente werden jedoch teilweise mit Sachleistungen, teilweise durch Barerstattung abgegolten.

Nicht zuletzt sollte man einen Vergleich mit England wagen, in dem seit fünf Jahren der Labour-Regierung am Werk ist: Wie in Schweden besteht auch in England keine gesetzliche Regelung der Lohnfortzahlung. Lediglich Staatsbeamte haben Anspruch auf Gehaltsfortzahlung auf sechs Monate. Das Unerfreuliche am englischen Krankenversicherungssystem aber ist, daß das Krankengeld nur etwa ein Zwanzigstel eines Indusstriearbeiterlohnes ausmacht.

Der österreichische Krankenversicherungsschutz erstreckt sich hingegen nicht nur auf die Erwerbstätigen, sondern auch auf deren Familienmitglieder. Wenn — zum Beispiel — der Familienerhalter erkrankt, dann hat er gesetzlich Anspruch auf Lohnfortzahlung. Zwar richtet sich die Dauer dieses Anspruches auf die - abgeleisteten Dienstjahre, im Höchstfall läuft sie aber sicher drei Monate. Bei Arbeitern gibt es dafür noch keine gesetzlichen Bestimmungen, doch sind im Kollektivvertrag die nötigen Vereinbarungen getroffen. Läuft die Zeitspanne der Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber nun aus, setzt das Krankengeld ein.

Ein wesentlicher Vorteil des österreichischen Krankenversicherungssystems ist die Tatsache, daß normale Arztkosten und die einfachen Spesen für Medikamente von der Krankenversicherung getragen werden, — selbstverständlich bei freier Wahl des Arztes im Rahmen der Vertragsärzte.

Auch für Angehörige des Versicherten ist für den Fall des Falles Vorsorge getroffen, denn während der ersten vier Wochen leistet die Versicherung dem Spitalkranken einen wesentlichen Kostenbeitrag, ab der fünften Woche trägt sie die Kosten zur Gänze.

Wer zahlt das nun? Als Krankenver-sicherunjsbeitragsgrundlage wird in Österreich die Gehaltshöhe gewertet. Die Höchstbeitragsgrundlage beläuft sich derzeit auf 4050.— Sehilling, für Angestellte ist somit der Beitragssatz mit 4,8 Prozent festgelegt. Davon müssen je die Hälfte von Dienstnehmer und Dienstgeber aufgebracht werden. Beim Arbeiter gilt dieselbe Beiitragsgrundlage, .jedoch mi\t einem Beitrag*saitz van 7,3 Prozent. Auch hier werden j* 50 Prozent getragen. Der Beitragssatz ist deshalb höher als bei den Angestellten, da er auch das Krankengeld einschließt.

So gesehen ist Kranksein in Österreich „nahezu ein Vergnügen“. Vielleicht auch deshalb liegen die Krankmeldungsraten österreichi-chischer Arbeitnehmer über denen des Auslandes. Trotzdem müssen in der nächsten Legislaturperiode neben kleinen auch quantitative Maßnahmen getroffen werden. Die Regierung Kreisky wird auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik also mit kritischem Maßstab gemessen werden müssen. So vielversprechend das „Humanprogramm“ in seinem Inhalt ist, so schwer wird es auch verwirklichbar sein. Was nützt ein kostenloser Spitalsaufenthalt — um nur ein Beispiel herauszugreifen — wenn die technischen Einrichtungen und die Unterbringung zu wünschen übrig lassen? Was nützt die Möglichkeit der freien Arztwahl, wenn — vor allem in Landgebieten — der nächste Arzt stundenweit entfernt ist? Hier Abhilfe zu schaffen erwartet man von der Regierung Kreisky. Ansonsten wäre die angepriesene „Alternative“ nur ein naives Wunschdenken.

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