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Rente und Ruhe

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Ich habe den Artikel Dr. Hans Leitners mit dem Titel „Wer arbeitet, wird bestraft“ mit großem Interesse gelesen. Wenn der Verfasser darin seiner Überzeugung Ausdruck gibt, beim Vorsitzenden des Sozialausschusses des Parlaments, also bei mir, für seine Forderungen „nicht das geringste Verständnis zu finden“, so kann ich ihn hoffentlich angenehm enttäuschen.

Persönlich bin ich durchaus bereit, über eine vernünftige und soziale Reform der Ruhensbestimmungen, wie sie in 253 Abs. 1 und 94 ASVG enthalten sind, ernsthaft zu reden. Einer völligen Aufhebung aller Ruhensbestimmungen — wie sie Dr. Leitner verlangt — kann jch allerdings nicht zustimmen. Bei den monatelangen Beratungen über die 9. Novelle haben neben den Auseinandersetzungen über den neuen Invaliditätsbegriff der Arbeiter vor allem die Debatten über diese Ruhensbestimmungen den breitesten Raum eingenommen. Eine Einigung über eine grundlegende und endgültige Lösung dieser Frage konnte jedoch nicht gefunden werden, da es sich hier wirklich um ein „heißes Eisen“ handelt, das neben der politischen Bedeutung auch noch eine rechtliche und darüber hinaus eine sozialpolitische und finanzielle Seite hat.

Auch jemand, der wie Herr Doktor Leitner, einen absolut einseitigen Standpunkt in dieser Frage einnimmt, wird nicht bestreiten können, daß das sozialpolitische Ziel unserer Pensions-versicherungsgesetzgebung in erster Linie darauf gerichtet sein muß, das Leistungsniveau der Pensionen möglichst weitgehend dem Niveau des vorangegangenen Arbeitseinkommens anzugleichen, um den Abstieg vom aktiven Einkommen auf jden Ruhegenuß möglichst zu mildern. Das ist nach der 8. Novelle zum ASVG für rund 95 Prozent der in der Privatwirtschaft beschäftigten Dienstnehmer weitestgehend erreicht worden. Die Pensionsleistungen nach dem ASVG sind in ihrem Höchstausmaß, allerdings erst nach Erreichung von 45 Versicherungsjahren, sogar höher als die Höchstleistungen im öffentlichen Dienst. Dies gilt nicht für die Einkommensbezieher, deren Entgelt über die derzeitige Höchstbeitragsgrundlage von 4800 S hinausgeht. Eine Änderung dieses Zustandes könnte hier durch eine Erhöhung der heutigen Höchstbeitragsgrundlage erreicht werden.

Die derzeitige Höchstpension erreicht ein Ausmaß von 79,5 Prozent der Bemessungsgrundlage. Da in die Bemessungsgrundlage höchstens eine Sonderzahlung bis zum Ausmaß der Höchstbeitragsgrundlage einbezogen wird, ergibt sich unter Umständen ein Höchstausmaß an Pension von 86,125 Prozent des monatlichen Gehalts. Dieser Betrag wird vierzehnmal im Jahr ausgezahlt.

Können wir es uns leisten?

So verständlich der Wunsch des einzelnen sein mag, derartige Leistungen auch neben seinem Arbeitseinkommen in vollem Ausmaß beziehen zu können, so stellt sich die Frage, ob wir uns einen derartigen „Luxus“, der keine sozialpolitische Notwendigkeit darstellt, auf die Dauer leisten könnten; es müßte ferner berücksichtigt werden, daß auf der anderen Seite weit mehr Pensionsbezieher stehen, die entweder nicht mehr arbeiten können oder keine entsprechende Beschäftigung mehr erhalten und daher nur auf die Pension allein angewiesen sind. Darunter befinden sich zweifellos viele, deren Einkommen lange nicht an die Höchstpension heranreicht, wie dies meist bei jenen Pension zutrifft, die nach Erreichung der Altersgrenze noch weiter in ihrer alten Beschäftigung verbleiben.

Es wird überdies immer wieder übersehen, daß die derzeitigen Beiträge zur Pensionsversicherung trotz ihrer Erhöhung um zwei Prozent in den letzten zwei Jahren noch lange nicht zur versicherungsmäßigen Dek-kung derartiger Leistungen ausreichen. Es läßt sich nun sicher verantworten, daß die Allgemeinheit — in Form von-Staatszuschüssen — und die Versicherungsgemeinschaft — in Form höherer Beiträge — zur Deckung dieser durch die eigenen Beiträge versicherungsmäßig nicht gedeckten Leistungen beiträgt, wenn der betreffende Pensionist sich auch tatsächlich im Ruhestand befindet, das heißt, wenn der Ver-ächerungsfall wirklich eingetreten ist.

Im Pensionsversicherungsrecht der Angestellten aus der Ersten Republik war festgelegt, daß der Versicherungsfall des“ Alters erst dann als eingetreten gilt, wenn der betreffende Rentenwerber neben der Erreichung der vorgesehenen Altersgrenze auch noch die Voraussetzung erfüllt hatte, in keiner versicherungspflichtigen Beschäftigung mehr tätig zu sein. Bei Antritt einer solchen Beschäftigung wurde - ohne Rücksicht auf die Höhe des Einkommens - ein bereits bestehender Rentenanspruch wieder aufgehoben.

Jeder rechtlich denkende Mensch, der die Dinge nicht ausschließlich aus einer egoistischen Perspektive heraus sieht, wird zugeben müssen, daß die allgemeine Anwendung dieses Grundsatzes auf alle Arten von Ruhe-und Versorgungsgenüssen sowohl rechtlich als auch moralisch ver-

„Die Furche“, Nummer 46/18. November 1961. tretbar ist, sofern diese Leistungen zu dem vorangegangenen Arbeitseinkommen in einem befriedigenden Verhältnis stehen. Allerdings gewinnt diese Sache ein anderes Gesicht, wenn solche Ruhensbestimmungen sich praktisch als Ausnahmebestimmungen gegen bestimmte Personenkreise auswirken. Dies trifft leider heute zu. Es besteht vor allem kaum Aussicht, Ruhensvorschriften auch im Pensionsrecht des öffentlichen Dienstes durchzusetzen, so daß die ASVG-Pensio-nisten immer das Gefühl haben werden, Menschen zweiter Klasse zu sein. Das ist das einzige zutreffende Argument, das ich für die Aufhebung! der Ruhensvorschriften gelten lassen könnte.

Die Stichtagsbestimmungen

Nun einige Bemerkungen zu den sogenannten „Stichtagsbestimmungen“:

253 Abs. 1 ASVG über den Stichtag sieht bekanntlich die Gewährung einer Rente nur unter der Voraussetzung vor, daß der Rentenwerber am Stichtag „in der Pensionsversicherung nicht pflichtversichert ist“. Da diese Bestimmung von den Schiedsgerichten und den höheren Instanzen ihrem Wortlaut nach ausgelegt wird, genügt es, lediglich am Stichtag selbst in keiner versicherungspflichtigen Beschäftigung zu stehen, um den Anspruch auf eine Pensionsleistung zu erreichen. Dies führt in der Praxis in immer stärkerem Maße zu fiktiven Lösungen des Dienstverhältnisses gerade nur für den Stichtag, und damit auch zur Erwerbung eines Anspruchs auf eine Leistung der Pensionsversicherung. Dasselbe Ziel kann auch erreicht werden durch Versetzung in einen Konzernbetrieb des Unternehmens bei voller Aufrechterhaltung der erworbenen dienstrechtlichen Ansprüche. Wer aber keine Möglichkeit zu einer solchen fiktiven Lösung des Dienstverhältnisses oder zu einer Versetzung in ein Konzernunternehmen hat und es sich mit seinem Dienstgeber auch sonst nicht richten kann — meist sind es die Gruppen der Angestellten mit langjährigen Abfertigungs-ansprüchen —, kann trotz Erreichung der Altersgrenze bis zum regelrechten Ablauf seines Dienstverhältnisses keine Leistung aus der Pensionsversicherung erhalten. Der andere dagegen, der lediglich nachzuweisen hat, daß er am Stichtag nicht versichert war, erhält auch bei Fortsetzung des gleichen Dienstverhältnisses unmittelbar im Anschluß an den Stichtag entweder die volle Pension oder, wenn die Voraussetzungen dafür nicht gegeben sind, eine nach 94 höchstens um den Grundbetrag gekürzte Pensionsleistung.

Für Gleichheit aller Pensionisten

Obwohl das Gesetz selbst keine Rechtsungleichheit beinhaltet, so führt doch die praktische Anwendung des Gesetzes zu verschiedenen rechtlichen Auswirftungen. Dieser Zustand kann auf die Dauer nicht aufrechterhalten werden. Selbst der in der 9. Novelle unternommene Versuch, hinsichtlich der Ruhensbestimmungen die selbständig Erwerbstätigen den unselbständigen gleichzustellen, kann die Verschiedenartigkeit der rechtlichen Auswirkungen nicht aus der Welt schaffen.

Ich wäre daher persönlich durchaus bereit, den 253, Abs. 1, aus dem ASVG zu eliminieren und auch bei Fortdauer eines bestehenden Dienstverhältnisses über den Stichtag hinaus lediglich die Ruhensbestimmungen des 94 ASVG anwenden zu lassen. Allerdings sollten auch hier meiner Meinung nach Änderungen nach der Richtung vorgenommen werden, daß die bisherige starre Einkommensgrenze von 1800 S nur als Untergrenze gilt und durch einen variablen Freibetrag, der etwa mit, , der individuellen Pensionsbemessungsgrundlage identisch sein sollte, ergänzt wird. Auf diese Art könnte der Grundsatz, daß ein Pensionist in die Lage versetzt werden soll, sich noch so viel dazuzuverdienen, damit er sein früheres versicherungspflichtiges Einkommen erreicht, im großen und ganzen verwirklicht werden. Im Interesse der lerstellung der verfassungsmäßigen

Gleichheit aller Pensionisten könnte es — mit oder ohne Änderung der Freigrenze — auch bei der jetzt bestehenden Regelung bleiben, daß höchstens der Grundbetrag der Pension zum Ruhen kommt. Dies wäre um so leichter zu verantworten, als man im groben Durchschnitt annehmen kann, daß die sogenannten Steigerungsbeträge durch die eingezahlten Beiträge versicherungsmäßig gedeckt sind; die Gesamtpension ist es keinesfalls.

Da beabsichtigt ist, die Verhandlungen über die Neufassung der Ruhensbestimmungen schon zu Beginn des heurigen Jahres wiederaufzunehmen, wäre mir daran gelegen, die Meinung des Herrn Dr. Leitner über die von mir geäußerten Auffassungen kennenzulernen. Ich werde mich um eine Verbesserung der derzeitigen Ruhensbestimmungen jedenfalls nur dann bemühen, wenn ich zu der Überzeugung komme, daß die in Aussicht genommene Kompromißregelung auch mit der Zustimmung eines Großteils der Betroffenen rechnen kann.

Ruhensbestimmungen und Pensionsautomatik

Eine völlige Beseitigung der Ruhensbestimmungen erscheint mir persönlich äußerst gefährlich.

Man denke nur daran, welche Schwierigkeiten sich bei völliger Aufhebung aller Ruhensbestimmungen ergeben würden, sobald man die im

Grundsatz bereits vereinbarte „Pensionsautomatik“, also die Anpassung der Pensionen an die steigenden Aktiveinkommen, die ich für die wichtigste und sozialpolitisch dringlichste Forderung halte, realisieren wird. Wird man wirklich den Mut aufbringen können, auch die Pensionen der noch in Arbeit stehenden Pensionisten in gleicher Weise wie bei den tatsächlich im Ruhestand befindlichen an die höheren Aktiveinkommen anzugleichen? Tut man es aber nicht, dann schafft man neue Ruhensbestimmungen.

Es gibt aber noch weit schwerwiegendere Bedenken. Es wird nicht immer bei der heutigen Überkonjunktur bleiben. Derzeit mag es volkswirtschaftlich gerechtfertigt erscheinen, den Pensionisten aus der Sozialversicherung durch Belassung ihrer vollen Pensionen einen zusätzlichen Anreiz zu schaffen, ihre Beschäftigung noch nicht aufzugeben oder eine neue anzutreten. Bei Eintritt einer Rezession — die doch zweifellos nicht ausgeschlossen werden kann — würde sich jedoch die Situation mit einem Schlag ändern. Dann haben wir nicht nur aus sozialen, sondern auch aus volkswirtschaftlichen Gründen kein Interesse mehr daran, daß Pensionisten anderen Arbeitnehmern den Arbeitsplatz wegnehmen und wir neben der vollen Pension für in Arbeit stehende Pensionisten auch noch Arbeitslosenunterstützung an jene zahlen müßten, die durch die Beschäftigung von Pensionisten ihren Arbeitsplatz verloren haben oder erst gar keinen bekommen. Von der gewerkschaftlichen Gefahr eines verstärkten Lohndrucks durch die Pensionisten möchte ich dabei gar nicht reden.

Die Kompromißlösung

Wie wird man den daraus entstehenden finanziellen und politischen Problemen beikommen?

Wird man dann doch die jetzt als verfassungswidrig diskriminierten Ruhensbestimmungen in verschärfter Form wieder einführen, oder wird man am Ende alle Pensionisten, auch die, die über kein zusätzliches Arbeitseinkommen verfügen, durch allgemeine Kürzung ihrer Pensionen zur Sanierung heranziehen, wie dies schon einmal im Jahre 1935 der Fall war?

Muß man nicht befürchten, daß im Falle einer größeren Arbeitslosigkeit von den verbitterten Menschen, die um ihren Arbeitsplatz bangen oder ihn schon verloren haben, die Forderung nach einem Arbeitsverbot für sämtliche Pensionisten gestellt wird? Es unterliegt keinem Zweifel, daß dies ein viel schwererwiegender Bruch verfassungsrechtlicher Grundsätze wäre, als irgendein Art von Ruhensbesrimmun-gen es jemals sein könnte.

In der Ersten Republik hat man den Grundsatz vertreten, daß Leistungen aus der Sozialversicherung einen möglichst vollwertigen Ersatz für das durch Eintritt des Versicherungsfalles verlorengegangene Arbeitseinkommen bieten sollen. Ein Ersatz kann natürlich nur an Stelle eines Arbeitseinkommens, aber nicht zusätzlich üu einem solchen gewährt weiden. Dieser Grundsatz ist in der nationalsozialistischen Ära aufgegeben worden; ich sehe ein, daß man ihn heute nicht voll wiederherstellen kann, ohne daß dabei bestehende Rechte verletzt würden. Der von mir aufgezeigte Weg scheint mir aber zu einer brauchbaren Kompromißlösung führen zu können; sie wird sicher nicht voll befriedigen, weil es nach wie vor Unterschiede zwischen dem Pensionsrecht im öffentlichen Dienst und dem für die Privatwirtschaft geltenden geben wird.

Außerdem werden nach dem geltenden Recht nur Erwerbseinkommen aus einer gleichzeitig ausgeübten Erwerb-tätigkeit und keinerlei sonstig Einnahmen oder Einkommen für die Frage des teilweisen Ruhens von Pensionen in Betracht gezogen.

Auf Grund meiner langjährigen Be-fassung mit dieser Frage bin ich jedoch zu der Überzeugung gekommen, daß die überwältigende Mehrheit aller versicherten Arbeitnehmer dafür Verständnis hat, wenn man jemanden, der ohnehin noch ein vollwertiges Arbeitseinkommen bezieht, nicht auch noch zusätzlich eine ungekürzte Pension zahlt, die durch die Beiträge des Betreffenden versicherungsmäßig nicht gedeckt ist, sondern auf die Dauer nur durch Zuschüsse aus allgemeinen Mitteln in dieser Höhe aufrechterhalten werden kann. Es geht daher nicht darum, daß derjenige, der arbeitet, bestraft werden soll, sondern darum, daß jene, die das Glück haben, sich durch eigene Arbeit noch eine ausreichende Existenz sichern zu können, nicht durch Geschenke der Allgemeinheit zusätzlich zu diesem Arbeitseinkommen auch noch ungekürzte Pensionen erhalten können, die für die übergroße Mehrheit aller Pensionisten, die nicht mehr arbeiten kann, die alleinige und ausschließliche Existenzgrundlage darstellen.

Ich weiß, daß meine Argumentation einen schwachen Punkt aufweist, bei dem jeder Gegner von Ruhensbestim-mungen sofort einhaken wird: Grundsätze, wie ich sie hier aufgestellt habe, müßten für jeden gelten oder sie können für niemanden gelten. Es wäre unrealistisch, anzunehmen, daß sich ihre allgemeine Anwendung in absehbarer Zeit verwirklichen ließe. Dennoch glaube ich, daß, auf lange Sicht gesehen, es ausschließlich darauf ankommt, ob diese Grundsätze sozialpolitisch berechtigt und moralisch vertretbar sind.

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