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Kranksein — am Betrieb

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Das Dilemma der Krankenkassen zeigt sich dem Unkundigen vor allem als ein bemerkenswertes Auseinanderfallen von unvermeidbaren Ausgaben und der zugehörigen, völlig unzureichend gewordenen Deckung. Nun scheint es aber geboten, nicht- allein die verfügbaren Zahlen zu analysieren, sondern auch jene Faktoren, die schließlich die ausgewiesenen Defizite bestimmt haben. Wenn man sich nur an die bisher bekanntgewordenen Defizitursachen klammert, übersieht man oft und oft in der Diskussion, daß der Abgang der Krankenkassen nicht allein eine Frage des offensichtlichen Medikamentenmiß- brauches ist und der nicht immer gerechtfertigten Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe, sondern daß auch die Kr änkengeldzahlungen mehr als bisher beachtet werden müssen.

Heute ist so viel die Rede vom „Betriebsklima”, von jener unwägbaren und doch so einflußreichen Atmosphäre, die dem einen Arbeitnehmer den Betrieb zur Hölle machen und dementsprechend seine Arbeitsfreude mindern kann (bis zur seelisch bedingten Erkrankung), während sie anderswo beachtliche Anreize zur Leistung und Mehrleistung zu schaffen vermag; nicht allein durch raffinierte und mit Recht von der Arbeiterschaft abgelehnte lediglich arbeitswissenschaftlich fundierte Anreizmethoden, die schließlich nur der einen Seite zu dienen scheinen, sondern einfach dadurch, daß zwischen Betriebsleitung und Belegschaft ein anständiges und aufrichtiges menschliches Verhältnis besteht und die unvermeidbaren Spannungen zwischen Unternehmungsführung und Belegschaft auf ein Minimum reduziert werden konnten.

Erst vor kurzem nahmen 200 steirische Betriebsräte die Gelegenheit wahr, gegen den Versuch der steirischen Gebietskrankenkasse, eine besondere Chefarztkontrolle einzuführen, Stellung zu nehmen. Der Widerspruch gegen die an sich verständliche Kontrolle durch die Kassen, die schließlich,das Krankengeld bezahlen müssen und eine Art „Gegenleistung” zu sehen wünschen, war nicht nur der Ausdruck einer nicht gerade sehr gelungenen Ankündigung der Einführung der Kontrolle, sondern sollte für uns die Aufmerksamkeit auf die Erstursache der Kassendefizite lenken: auf die Dienstverhinderung durch Kranksein und die damit verbundene Zahlung von Krankengeld usw.

Wenn die steirische Gebietskrankenkasse bemüht ist, ihr Defizit (1959 wahrscheinlich 19 Millionen) zu reduzieren, kann ihr das niemand verargen, schon gar nicht jene, die oft, und leider nicht immer mit Unrecht, die Insti-1 tution der Kassen angreifen.

Anderseits täte man gut daran, auch neben den sonstigen Vorbeugungsmaßnahmen, die Krankheiten verhindern helfen sollen, sich jener Chancen zu besinnen, die im Betriebsklima angelegt und sicher geeignet sind, das Kranksein zu verringern. Nicht wenige Krankheiten und Absenzen von der betrieblichen Tätigkeit haben den Charakter einer Arbeitsplatzflucht, einer Flucht aus einem unleidig gewordenen Milieu, dem man sich auf Zeit entziehen will.

Im Bereich der Konzernbetriebe eines großen österreichischen Kombinats erwies sich bei einer statistischen Aufgliederung der Ausgaben für Krankengeld, daß die Aufwendungen der einzelnen Betriebe einen erstaunlich unterschiedlichen Umfang haben. Während in einem Betrieb bis zu 87 Prozent der Krankenversicherungsbeiträge für Krankengeld und für Fahrten (zum Arzt) verbraucht werden mußten, vermochte ein anderer Konzernbetrieb die Vergleichszahlen auf die Hälfte zu senken. In dem einen Betrieb werden je Kopf und Jahr an die 00 S für Krankengeld ausbezahlt, im anderen Betrieb kommt man mit der Hälfte des Betrages aus. Im erstangeführten Betrieb verbleiben daher nur 13 Prozent vom Krankenkassenbeitrag, um die Arzthonorare und die Medikamente zu bezahlen.

Man darf selbstverständlich nicht übersehen, daß das Ausmaß der Krankheitsfälle und der Krankheitstage auch von anderen Faktoren als vom jeweiligen Betriebsklima abhängig ist, etwa von der durchaus unterschiedlichen physischen und nervlichen Beanspruchung von Betrieb zu Betrieb. Daneben spielt aber sicher die Art der Menschenführung und der Kontaktnahme zwischen unten und oben eine große Rolle, aus der heraus die so bedeutsame Arbeitsfreude entsteht, in der auch der Wille eingeschlossen ist, dann am Arbeitsplatz zu bleiben, wenn der Gesundheitszustand etwas zu wünschen übrig läßt. Herrscht aber in einem Betrieb nur der bürokratische Drill, den vor allem die mittleren Führungskräfte raffiniert auszuüben verstehen, sind Zank und Hader der einzige Anlaß, damit oben und unten Kontakt nehmen, dann wird schon ein kleiner Schnupfen ausreichender Grund sein, um daheim zu bleiben, sich Krankengeld auszahlen zu lassen und zur Deckung des Anspruches Medikamente nach Konsultation des Arztes zu schlucken oder zumindest zu horten.

Jedenfalls sollten die in den Betrieben für die Menschenführung Verantwortlichen (auch die Meister und Vorgesetzten der niederen Ränge) beachten, daß sich Menschlichkeit und Anständigkeit im Verhalten gegenüber den jeweils Untergebenen im besten Sinn des Wortes „bezahlt” machen. Nicht nur für die Krankenkassen, deren Defizite schließlich die Steuerzahler tragen müssen, sondern auch für die einzelnen Unternehmungen. Schließlich hat sich ja der „kapitalistische” Westen dadurch vor dem Kommunismus zu retten vermocht, daß er eingesehen hat, daß soziales Verhalten nichts oder wenig koste, darüber hinaus aber auch viel bringe. Neben politischer Sicherheit auf kurzen Umwegen auch Mehrerträge. Entsprechend dieser Einsicht verhielt sich der Westen.

Es wäre nicht schlecht, würde man auch in Oesterreich begreifen, daß Kranksein auch vom Betrieb her provoziert werden kann.

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