Gehüpftes Einmaleins

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Das Wiener Projekt "Bewegtes Lernen" will der traditionellen Sitzschule den Garaus machen

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Das Wiener Projekt "Bewegtes Lernen" will der traditionellen Sitzschule den Garaus machen

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Sie trippeln im Slalomlauf, wagen einen Sprint übers Gitternetz und stellen sich selbst auf den Kopf. In den zwei Turnsälen der Volksschule Engerthstraße im 20. Wiener Gemeindebezirk herrscht Wettkampffieber. Dutzende Sechsjährige vollführen vor den gestrengen Augen der Evaluatoren ihre Kunststücke. Der Sinn der Übung? Herauszufinden, ob die Kinder aus Schwerpunktklassen für "Bewegtes Lernen" ihre überwiegend sitzenden Altersgenossen an Geschicklichkeit, Kraft, Konzentrations- und Reaktionsfähigkeit übertreffen.

Insgesamt 28 solcher Schwerpunktklassen werden seit September 2000 in Wien geführt. Bis Ende der ersten Projektphase im Jahr 2004 sollen jährlich 25 neue dazustoßen. "Eigentlich müsste die Bewegungserziehung schon im Kindergarten beginnen", fordert Marina Thuma vom Institut Bewegtes Lernen, das in Kooperation mit dem Wiener Stadtschulrat und der Pädagogischen Akademie eine entsprechende Zusatzausbildung für Lehrer in vier Modulen anbietet. Nicht nur an alternativen Schulen, auch an traditionellen Bildungsstätten sieht die designierte Wiener Stadtschulrats-Präsidentin Susanne Brandsteidl Chancen für mehr Körperlichkeit: "Die Sitzschule hat auch in der Regelschule ausgedient." Die Philosophie des Projekts ist einfach: In allen Unterrichtsfächern bewegen sich die Kinder und lösen dabei ihre Lernaufgaben. Zusätzlich werden die Klassen durch Orthopäden und Physiotherapeuten betreut.

Angeregte Köpfe Vor allem Haltungsschäden und Übergewicht wird der Kampf angesagt. Die integrierten Körperübungen im Unterricht sollen sich jedoch auch auf den Lernprozess selbst positiv auswirken, meinen Physiologen: So führen Übungen wie Federn auf einem Sitzball oder gemütliches Umherspazieren bereits zu einer Steigerung der Hirndurchblutung um 14 Prozent. Auch Stoffwechselprodukte und Hormone werden vermehrt ausgeschüttet und steigern so das Wohlbefinden des Kindes.

Der Kreativität der Lehrenden sind keine Grenzen gesetzt: Lesen am Balancierkreisel ist ebenso möglich wie Rechnen mit Hilfe des Hüpfteppichs oder Laufdiktate. Ein besonderes Schmankerl hat Harald Bärenthaler vom Institut Bewegtes Lernen entwickelt - "Golden 12". "Die Kinder zählen auf Englisch bis zwölf und machen dabei kinesiologische Übungen. Dadurch kommt es nach langem Sitzen zum Haltungsausgleich," erklärt der Sporttherapeut. Rund 900 Lehrerinnen und Lehrer haben bisher an einem der vier angebotenen Ausbildungs-Module teilgenommen. Der Lohn für die Mühe ist ein besseres Klassenklima, sind Experten überzeugt.

Indes geht der Übungszirkel in den beiden Turnsälen ins Finale. Noch ist für die Evaluatoren nicht klar, ob sich "bewegtes Lernen" tatsächlich in eindeutigen Messergebnissen niederschlägt. Weitere Tests in der zweiten und vierten Schulstufe sollen endgültig Klarheit geben. Dass die Bewegungsförderung in der Schule jedoch langfristig Früchte tragen wird, ist unbestritten. "Unter den Kindern sind viele, denen sportliche Reize abgegangen sind," zieht Evaluator Roland Werthner, Assistent am Institut für Sportwissenschaften der Uni Wien, Bilanz. Eine Entwicklung bereitet ihm jedoch besondere Freude: "Viele Kinder bekommen durch Inline-Skaten und Skateboard-Fahren eine bessere Steuerungsfähigkeit." Wenn das die genervten Fußgänger wüssten...

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