Anständigkeit hat seinen Preis

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"Das Kinderfräulein" von Ivan Ivanji: Ein Roman über die Bindung des Geretteten an die Retterin und die Verständigungsschwierigkeiten Überlebender.

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"Das Kinderfräulein" von Ivan Ivanji: Ein Roman über die Bindung des Geretteten an die Retterin und die Verständigungsschwierigkeiten Überlebender.

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So arglos der Titel des jüngsten Romans von Ivan Ivanji, "Das Kinderfräulein", klingt, so behutsam beginnt auch das erste Kapitel. Ein adeliges, österreichisches Fräulein tritt die Stelle eines Kinderfräuleins beim reichen Zuckerfabrikanten Keleti im jugoslawischen Banat an. Ihr Zögling, Viktor, der Sohn des Fabrikanten, ist Mitte der dreißiger Jahre ungefähr fünf Jahre alt. Die Idylle der Kleinstadt mit ihrem Völkergemisch von Serben, Ungarn, Deutschen und Juden, die friedlich miteinander leben, verstärkt den Eindruck, hier ein ganz normales Lebensschicksal nachzuvollziehen. Wie in einem Märchenschloß fühlt sich Ilse von Bockberg, das in Armut aufgewachsene adelige Fräulein.

Auch die Erwähnung eines Märchenprinzen, den Ilse von Bockberg hier zu finden hofft, verursacht beim Leser kurzfristig das Gefühl, sich auf den Spuren eines romantischen Liebesromans im Stil der Jahrhundertwende zu befinden. Doch Leser, die den Autor und sein Schicksal kennen, wissen, daß der Schein trügt, daß sich hier etwas aufbaut, das in eine ganz andere Richtung geht. Eine dramatische Entwicklung, die uns alle betrifft. Ein einziger Satz im ersten Kapitel läßt den aufmerksamen Leser ahnen, womit er konfrontiert werden wird: "Wenn die Keletis doch bloß keine Juden gewesen wären!"

Das Fräulein verliebt sich nicht in einen Märchenprinzen, sondern einen deutschstämmigen Spediteur, der nach der Okkupation durch die Nazis zur Gestapo gehört. Dadurch gelingt es ihr, wenigstens Viktor und seine Mutter Goldy zu retten. Sie werden nach Ungarn abgeschoben. Für Keleti, den Zuckerfabrikanten, kann sie nichts mehr tun. Er wurde gleich in den ersten Tagen gehenkt. Ihr Preis für die Rettung von Mutter und Sohn ist die bei der Gestapo. Viktor, der inzwischen 12jährige Knabe, straft sie beim Abschied mit Verachtung. Er empfindet ihr Tun als Verrat, nicht als Rettung seines Lebens. Die moralische Zwangslage, in der sich Menschen wie Ilse in solchen Zeiten befinden, kann er nicht begreifen. Über Ilses Schreibtisch wandern fortan die Greueltaten der Gestapo in Form von Akten. Sie hat nichts zu entscheiden, nur abzuheften. Ihr Gewissen betäubt sie mit Rauschgift und der Äußerung ihres Gestapo-Vorgesetzten: "Ich habe das alte Testament studiert. Kain hat Abel umgebracht. Wir sind doch alle Kains Abkömmlinge." Später, als sich die Geschichte umkehrt, Ilse mit anderen Deutschen in einem Lager halb verhungert, erinnert man sich wieder an diesen Satz.

Nach einem halben Jahrhundert treffen sich Ilse und Viktor, inzwischen ein berühmter Architekt, zufällig wieder. Er bittet sie, den Lebensabend mit ihm zu verbringen. Würde der Leser nun auf ein glückliches, märchenhaftes Ende hoffen, wie es der Anfang vorzugaukeln schien, hat er sich geirrt. Hier sitzen sich Täter und Opfer gegenüber und versuchen, über etwas zu sprechen, das sich nicht in Worte fassen läßt. Für Viktor bleibt Ilse eine Verräterin, auch wenn sie ihn vor dem Tod bewahrte. Ihre Versuche, sich zu verteidigen, scheitern immer wieder. Die Gespräche enden jedesmal in einer Sackgasse, werden abrupt abgebrochen. Viktor kann nicht zur Ruhe kommen. "Ich habe gelernt, mich nicht abzufinden."

Er bereist die Orte des Schreckens, spricht mit Tätern und beschäftigt sich mit der Gestaltung eines Mahnmals für Wien. Aber er kommt zu keinem Ergebnis. Selbst Yad Vashem, die Gedenkstätte in Israel, stößt ihn ab. Mich, das muß ich einfügen, als Nachgeborene der Tätergeneration, hat sie tief berührt. Doch Viktors Bild von den aufsteigenden Drachen spielender Kinder am Strand von Tel Aviv, als Sinnbild der ermordeten Kinder, bewegt mich mehr.

Mit dem letzten Kapitel, Viktors Tod, führt der Autor den Bogen wieder sanft zurück, gibt noch einmal Gelegenheit, auch seine poetische Sprache zu genießen. Der jüdische Fluch "Du sollst in einem historischen Zeitalter geboren sein!" traf die Juden in diesem Jahrhundert ganz besonders. Ivanjis Buch will keine Aufarbeitung der Geschichte, sondern eine fortdauernde Auseinandersetzung mit ihr. "Ich empfinde Aufarbeitung von Geschichte als das Fatalste, was es gibt", läßt er Viktor sagen. Ich kann ihm nur zustimmen.

DAS KINDERFRÄULEIN Von Ivan Ivanji Picus Verlag, Wien 1998 286 Seiten, Ln., öS 291,-

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