Bilder aus einer „verrückten“ Zeit

Werbung
Werbung
Werbung

„Madness & Modernity. Kunst und Wahn in Wien um 1900“ im Wien Museum: Die Ausstellung will die vielfältigen Beziehungen zwischen Psychiatrie und bildender Kunst, Architektur und Design beleuchten und zeigen, dass Wahnsinn eine Art kulturelles Leitmotiv war.

„Welcher faule Geruch geht von dem Bilde der Frau Dr. L. Fr. aus! Welch ekelhafte Pestbeule präsentiert uns der Maler in diesem Karl Kraus!“ Als Oskar Kokoschka 1911 im Wiener Hagenbund Porträts bekannter Persönlichkeiten ausstellte, war die Empörung groß: „Seine Farben braut er sich zusammen aus giftiger Fäulnis, gärenden Krankheitssäften“, aus den Gesichtern spreche der „trostlose Ausdruck einer in qualvoller Zersetzung befindlichen Seele“, echauffierte sich ein Kunstkritiker. Ein anderer Rezensent zeigte sich fassungslos angesichts der Physiognomien, die „mit allen Zeichen stillen oder rabiaten Wahnsinns von der besudelten Leinwand glotzen, grinsen, blödeln“.

Ungeachtet dessen, dass sich die Porträtierten allesamt bester geistiger Gesundheit erfreuten – Kokoschkas Darstellungsweise und die Reaktion der Kritik machen deutlich, dass zu jener Zeit der Wahnsinn eine Art kulturelles Leitmotiv war. Die Beschäftigung mit Geisteskrankheiten war en vogue und fand großen Widerhall nicht nur bei avantgardistischen Künstlern, sondern in weiten Teilen der Gesellschaft. In welchem Ausmaß, das versucht die Ausstellung „Madness & Modernity. Kunst und Wahn in Wien um 1900“ im Wien Museum zu verdeutlichen, in der die mannigfaltigen Beziehungen zwischen Psychiatrie und bildender Kunst, Architektur und Design beleuchtet werden.

In der Kunst spielte Freud keine Rolle

Wien war eines der führenden europäischen Zentren für Psychiatrie und das fand in Kunst und Kultur seinen Niederschlag. In den besseren Kreisen waren Nervenleiden mehr oder weniger akzeptiert, wurden mitunter sogar als chic betrachtet. Der begnadete Selbstdarsteller Peter Altenberg stilisierte sich als geistig angekränkelt, sodass ihn sein Freund Arthur Schnitzler als „berufsmäßigen Neurastheniker“ bezeichnete. Weil Wahnsinn als unmittelbare Folge des modernen urbanen Lebens angesehen wurde, entstanden am Stadtrand oder am Land die ersten modernen psychiatrischen Krankenhäuser. Josef Hoffmann schuf mit dem 1904/05 errichteten Sanatorium Purkersdorf ein Gründungswerk der modernen Architektur, Otto Wagner plante das psychiatrische Krankenhaus Am Steinhof, ein Juwel der Jugendstil-Architektur.

Die psychiatrische Medizin der damaligen Zeit brachte Artefakte hervor, die durchaus als künstlerisch bezeichnet werden könnten. Etwa die Wachsmodelle der Köpfe zweier Mikrozephalie-Patienten, mitunter „Vogelmenschen“ genannt, die in Medizinerkreisen einen starken Eindruck hinterließen. In wissenschaftlichen Zeitungen waren Fotografien abgebildet, die angeblich körperliche Zeichen von Geisteskrankheit darstellten. Diese dienten auch bildenden Künstlern als Inspiration bei der Suche nach neuen Darstellungsformen des menschlichen Körpers. In diesem Kontext ist auch die Serie von Selbstporträts einzuordnen, die Egon Schiele 1910 begann und bis zu seinem frühen Tod fortsetzte. Diese Gemälde und vor allem Grafiken, die den Künstler als ausgemergelte, verrenkte, grimassierende Gestalt zeigen, zählen zu Schieles bekanntesten Werken.

Ausgerechnet jener Mann, mit dessen Namen Nervenleiden und das Wien der Jahrhundertwende heute wohl am häufigsten assoziiert werden, spielte für die künstlerische Auseinandersetzung mit Geisteskrankheit keine Rolle: Sigmund Freud. Seine Ideen fanden unter den Wiener Künstlern keine Resonanz. Bezeichnend ist das in der Schau gezeigte Porträt Freuds von Max Oppenheimer (1907), der einen ähnlich psychologisierenden Ansatz wie Kokoschka verfolgte (und von diesem als Plagiator verachtet wurde). Dem nichtssagenden Bildnis fehlen die verzerrten Gesten, die „giftige Fäulnis“, die Zeichen des Wahnsinns – und auch die typische Barttracht des Gründers der Psychoanalyse. Nichtsdestotrotz sind das Highlight der Ausstellung im Wien Museum der originale Überwurf und zwei Pölster von Freuds berühmter Couch, eine Leihgabe des Sigmund Freud Museum in London.

„Madness & Modernity“ ist eine von der Wellcome Collection, einem Londoner Medizingeschichtemuseum, übernommene Schau. Die distanzierte Sicht von außen, die sich auch in dem englischsprachigen Titel niederschlägt, kann den heimischen Besucher mitunter irritieren. Der im Katalog erhobene Vorwurf, die Künstler der umschriebenen Epoche hätten sich nicht für die psychisch Kranken selbst, sondern nur für deren Darstellung interessiert, lässt sich auf die Ausstellungsmacher und ihre Sicht auf Wien um 1900 übertragen.

Madness & Modernity

Kunst und Wahn in Wien um 1900

Wien Museum, 1040 Wien, Karlsplatz

bis 2. Mai 2010, Di–So 10–18 Uhr

Katalog: 164 S., Christian Brandstätter Verl., E 24,–

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung