Eine Zeit des Brückenschlagens

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Auch für Europas Muslime hat der Ramadan, ihre intensivste religiöse Zeit im Jahr, begonnen. Für die nichtmuslimische Umwelt ein Anlass, sich mit muslimischen Realitäten ringsum auseinandersetzen. Dazu ein Band mit Männerporträts und eine literarische Näherung.

Ganz sicher ist es zwar nicht, dass die Muslime am 11. August zu fasten begonnen haben. Denn der traditionelle Anfang des Monats Ramadan wird durch die Sichtung der Mondsichel bestimmt: Wenn sich der erste Hauch eines Scheins davon zeigt, dann ist Fastenzeit. Die konkrete Ausformung des Ramadan, in dem sich gläubige Muslime von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang jeder Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme sowie des Geschlechtsverkehrs enthalten, ist regional verschieden. Auch die Bestimmung von dessen Anfang und Ende. In der Türkei etwa hat man aufgrund astronomischer Daten bereits im Voraus den 11. August als ersten Tag des Ramadan bestimmt, auch in Deutschland haben sich die muslimischen Organisationen erstmals auf diesen gemeinsamen Termin geeinigt.

Ob sich die Schließung einer als radikal eingestuften Moschee in Hamburg am vergangenen Montag, also unmittelbar vor dem Ramadan-Beginn, etwas mit dem Fastenmonat zu tun, darüber sind sich die Kommentatoren nicht einig, obwohl der Zeitpunkt der Schließung des Gebetshauses, das schon seit 9/11 im Visier der Staatsschützer stand, einen Beigeschmack hinterlässt.

Rund um den Ramadan sind die Empfindlichkeiten und die Aufmerksamkeit auf die Muslime auch in Europa zunehmend höher. Es darf prognostiziert werden, dass auch hierzulande in den nächsten Wochen die Blicke auf den wachsenden muslimischen Teil der Gesellschaft wieder intensiver werden.

Die Auseinandersetzung mit den Muslimen in Europa ist – Wahlkampf in Wien und anderswo hin oder her – vordringlich. Publizistische Hilfen dabei tun not – und sind ungeschminkt zu begrüßen, wenn sie den schwierigen Blick in verschwiegene Teile der Gesellschaft ermöglichen.

Lektüre, dringend anzuraten

Ein in dieser Hinsicht exzeptionelle Neuerscheinung ist der soeben erschienene Band „Halbmondwahrheiten“ der Münchner Journalistin Isabella Kroth, die – als Frau! – Zugang zu einer türkischen Männergruppe im Berliner Bezirk Neukölln erhielt und nun in dem Buch 13 Porträts über türkische Männer in der Einsamkeit Deutschlands verfasst hat.

Als Erstes rückt sie den türkischen Psychologen Kazim Erdogan, den Spiritus Rector der Männergruppe, ins Licht und zeigt packend und nachvollziehbar, wie wichtig der Blick ist auf die kulturellen Klüfte, die sich nach wie vor zwischen den Türken und dem Land, in dem sie leben, auftun.

Aber noch mehr lenken die einzelnen Reportagen das Augenmerk auf die Lebensprobleme, denen sich die einzelnen dieser Männer gegenüber sehen: Da ist der eine, der nach Deutschland kommt, und all seine Zeugnisse sind nichts mehr wert – seine Frau ist anerkannt, und er, der Türke, findet sich im Abstieg und in den hiesigen sozialen Verhältnissen nicht zurecht.

Das ist ein anderer, der seine beiden Söhne verliert, weil diese in der Türkei zurückgeblieben sind, und er im Norden Geld verdienen will – auch für sie. Daneben gibt es den Frommen und den, der fromm ist, weil die Familie und die Moschee ihm die Religion oktroyieren. Dann der, der kriminell wurde, und kaum einer traut ihm eine Perspektive zu. Wieder ein anderer kann nicht nach Anatolien zurück, weil er dort einer Blutfehde anheim fallen würde – aber wie kann er das seiner Umgebung in Deutschland vermitteln?

Integration ist eine Bewegung aufeinander zu, schreibt Isabella Kroth in der Schlussfolgerung am Ende des Buches. Die Männergruppe, aus der ihre spannenden und geradezu unbedingt lesenswerten Porträts entstammen, will eine Brücke zu einer Gesellschaft sein, von der diese Männer über einen „unsichtbaren Graben“ getrennt sind. Eine Lektüre die dringend anzuraten ist.

Saids Ost-westlicher Divan

Einer ganz anderen Art des Dialogs mit Europa redet der säkulare Muslim und seit 1965 Exiliraner in Deutschland, Said, das Wort. Said, einer der wichtigsten zeitgenössischen Lyriker und Essayisten deutscher (!) Sprache legt seinem Band „Das Niemandsland ist unseres“ eine Begegnung zwischen West und Ost – mit den Augen eines aus dem Orient in den Okzident Gekommenen zugrunde.

Ja, es war Goethe, der selber West und Ost in Symbiose bringen wollte, und der selber die „Toleranz“ als etwas Vorübergehendes angesprochen hat, und von dem das geflügelte Wort stammt: „Dulden heißt beleidigen.“

Said zitiert in einem seiner Texte das Goethe-Wort denn auch, eine literarische Notiz über den arabischen Arzt und Philosophen Avicenna, eigentlich Ibn Sina, der für Europa das antike Wissen rettete und dann von ihm schmählich vergessen wurde. Said räsoniert aber auch, dass Ibn Sina in Teheran heute wegen Häresie hingerichtet worden wäre – und: in deutschland aber wäre avicennas medizinstudium nicht anerkannt, dann müsste er, wie eine große anzahl seiner kollegen, die hier zuflucht gefunden haben, als taxifahrer arbeiten. dazu müsste er integrationsdeutsch lernen, um in der moschee auf deutsch zu beten …

In Saids Buch finden sich Näherungen an den persischen Dichter Hafis, dessen „Diwan“ auch Goethe inspirierte, sowie eine berührende wie gleichfalls politische Auseinandersetzung in Ich-Form mit Jesus von Nazareth.

Schließlich beschreibt der Autor die Sehnsucht eines Kindes auf der suche nach europa – ein Kind, nun seit 37 jahren auf der flucht, das endlich angekommen ist …

Halbmondwahrheiten.

Türkische Männer in Deutschland – Innenansichten einer geschlossenen Gesellschaft.

Von Isabella Kroth. Diederichs 2010

208 S., Geb.,

* 17,50

Das Niemandsland ist unseres.

West-östliche Betrachtungen.

Von Said. Diederichs 2010

112 S., Geb., e 15,40

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