6558460-1948_35_08.jpg
Digital In Arbeit

Ein Widerruf

Werbung
Werbung
Werbung

Unter den zahlreichen Versuchen, die menschliche Geistesgeschichte nach evolutionistischen Prinzipien zu deuten, war die Theorie des französischen Gelehrten L u- cien Levy-Bruehl von der prälogischen Geistesart der Primitiven gewiß eine der interessantesten. Die Lehre des Pariser Soziologen, von diesem 1910 erstmalig dargestellt („Les fonctions mentales dans les societes inferieurs“), 1922 („La Menta- litd Primitive“) und später in mehreren umfangreichen Werken fortgeführt, vertrat die Auffassung, daß den „Primitiven“ ein .vom Grunde aus anderes Denken eigen wäre als den „Zivilisierten“. Die Menschheit zerfiele nach ihm in zwei ihrer Geistesart nach völlig verschiedene Teile und es wäre uns absolut unmöglich, das Denken der Primitiven voll zu verstehen. In diesem herrschten nämlich weder die Prinzipien der Identität und des Widerspruchs noch eine vernünftige Ursache-Wirkungs-Beziehung im Sinne unserer Logik. Es wäre vielmehr „mit einer unglaublichen Intensität“ von Kollektivvorstellungen beherrscht, innerhalb derer Dinge, Wesen und Erscheinungen aneinander Anteil nehmen und so zugleich etwas und etwas anderes sein könnten. Die Naturvölker erfassen deshalb auch nichts wie wir: alles hätte für sie mystische Ursachen, Krankheit und Tod wäre für sie nie natürlich, es gäbe für sie zum Beispiel auch keinen eigentlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier.

Diese Lehre hat, obzwar von der Ethnologie als der zuständigen Fachwissenschaft von Anfang an scharf kritisiert und bald völlig abgelehnt, nichtsdestoweniger eine beträchtliche Verbreitung und Popularisierung erfahren. Englische und deutsche Übersetzungen entstanden, eine letztere bereits 1917 auf Betreiben des Wiener Psychologen Jerusalem, der Levy- Bruehls Theorie als einen ersten Schritt in Richtung auf eine neue, soziologisch fundierte Erkenntnistheorie hin begrüßte. Eine ganze Literatur, die der Fruchtbarmachung der Ergebnisse Levy-Bruehls für andere Wissenschaftsbereiche gewidmet war, folgte. In Anwendung des Prinzips der Analogie zwischen der Entwicklungsgeschichte jedes einzelnen Lebewesens und der seiner Art wurde die „primitive Geistigkeit“ mit der des Kindes verglichen — das gemäß dieser Auffassung die gleiche Stufe eines höheren geistigen Entwicklungszustandes durchlaufen mußte — ebenso mit der des Schizophrenen, der — nach bestimmten psychiatrischen Theorien — in ein archaisches Denken zurückfallen soll. Derart von verschiedensten Seiten als willkommene Stütze der eigenen Anschauungen herangezogen, fand die „Mentalitž primitive“ ihren geachteten Platz im Gesamtrahmen der Entwicklungstheorie. Was darüber hinaus noch besonders zu ihrer Popularisierung beitrug, war die Tatsache, daß sie sich allen den so weit verbreiteten Anschauungen von der grundsätzlichen Überlegenheit des Weißen über den Farbigen so gut einfügte, ja mehr, geradezu deren wissenschaftliche Bestätigung zu sein schien. Dies letztere im besonderen veranlaßte 1925 den verdienten französischen Ethnologen und Religionsforscher 01 i- vier Leroy zur Abfassung einer ausdrücklichen Widerlegung der These vom „Prälogismus“ der Primitiven. Andere, sehr umfassende Kritik auf breiter Basis erfolgte kurz danach durch Raoul Allier („Le non-civilise et nous“), der sich die Behandlung der durch Livy-Bruehl aufgeworfene Frage des angeblich unüberbrückbaren Un- schieds zwischen Kultur- und Naturmenschen zur speziellen Aufgabe gemacht hatte. Überhaupt fehlte es dann in der einschlägigen Literatur kaum in irgendeinem ethnologischen Werk an einer negativen Stellungnahme zu Lėvy-Bruehl, zumal die Unzulänglichkeit seiner Methode wie die seiner sachlichen Prämissen inzwischen klar zutage getreten waren. So sah dieser sich gezwungen, manche seiner Behauptungen zurückzunehmen, zum Beispiel als

L. Weber ihm entgegenhielt, daß etwa die Verwendung eines Rades bei denen, die es verwenden, doch wenigstens ein unbewußtes geometrisches Verständnis voraussetzen müßte. Aber im wesentlichen verteidigt er seine Konzeption doch recht hartnäckig und zäh.

Es erregte deshalb weit über Fachkreise hinaus bedeutendes Aufsehen, als in der Pariser Zeitschrift „Revue philosophique“, deren Herausgeber der inzwischen verstorbene Gelehrte gewesen war, im Sommer des Vorjahres die posthume Veröffentlichung von Auszügen seines Tagebuchs erfolgte, in der er das, was er durch mehr als 30 Jahre gelehrt und vertreten hatte, freiwillig und aus besserer Einsicht widerrief. Wenn Levy-Bruehl es auch aus leicht begreiflichen' Gründen nicht über sich gebracht zu haben scheint, dies noch zu seinen Lebzeiten zu tun, so stellt es ihm doch ein schönes Zeugnis wissenschaftlicher Aufrichtigkeit aus.

Die Tragweite dieses Widerrufs für die Haltbarkeit der vorerwähnten, auf ihn gebauten Theorien ist klar. Darüber hinaus hat der Fall Levy-Bruehl jedoch noch eine andere, symptomatische Bedeutung für die Geistigkeit unserer Zeit. Seine Position in der Wissenschaft war die des streng ver- nunftgläubigen Positivisten. Wenn Pascal einmal schrieb, es gäbe zwei Arten geistigen Exzesses, nämlich „nur das Vernünftige zugeben zu wollen oder es völlig auszuschließen", so darf diese? Satz mit vollem Recht zur Charakterisierung des Prälogismus, wie dessen Erfinders herangezogen werden. Levy-Bruehl hatte August Comte, dem Begründer des Positivismus, nur den einen Vorwurf zu machen gehabt, daß er sich nämlich in seiner geschichtsphilosophischen Konzeption zu sehr von seiner vorgefaßten spekulativen Auffassung härte leiten lassen. In Wahrheit war sein eigenes System, auf zweifelhaften Tatsachen fußend, nichts anderes als eine Gegenzeichnung des prälogischen, instinktbeherrschten, unschöpferischen Primitiven gegenüber dem angeblich so logischen, vernunftgeleiteten, schöpferischen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts. Auf die Tatsache, daß die meisten der von ihm als „prälogisch und mystisch“ klassifizierten Denkformen und Anschauungen keineswegs nur auf die „niedriger stehenden Gesellschaften“ beschränkt sind — zu denen er anfänglich zum Beispiel sogar die chinesische rechnen wollte, sondern sich durchaus auch in allen Gesellschaftsschichten der europäischen Kultur finden, hat Levy-Bruehl ja nie sonderlichen Wert gelegt, da sie zufolge seiner Theorie ja nichts anderes als „Überbleibsel“ seines Prälogiums sein konnten. Ein solches Überbleibsel war ihm, dem typischen Vertreter des westeuropäischen Laizismus, auch jede Art von Religion, wovon er in seinen Werken zahlreiche Beweise liefert und in welcher er eben nichts anderes erblicken kann als Magie und „prälogische" Kollektiworstellungen. Hierin war er einerseits von der Überschätzung älterer, einseitig soziologisch fundierter Ideen vom kollektiven Ursprung menschlicher Geistigkeit geleitet, die heute noch besonders in den pseudowissenschaftlichen Anschauungen mancher Marxisten fortleben. Andererseits fußte er auf den zu Beginn unseres Jahrhunderts geläufigen präanimistischen Theorien, denen gegenüber Magie heute allgemein als ein Phänomen angesehen wird, das erst in späteren Phasen der Kulturentwicklung seine Ausbildung und Entfaltung gefunden hat und das im übrigen innerhalb des Kulturgefüges stets einen ausgesprochen destruktiven Faktor dargestellt hat: während Magie unter Mobilisierung von Affekten, wie Angst und falschem Vertrauen, die sittlichen Quellen menschlichen Handelns zerstört, den kritischen Verstand und die schöpferische Intelligenz lahmlegt, stellt sie das genaue Gegenteil religiöser Gottgeborgenheit dar.

Mit der Hinfälligkeit der These vom Prälogismus ist auch der Versuch, das mystisch? Moment des Religiösen einfach als ein Relikt einer kulturgeschichtlich älteren Stufe menschlicher Geistesentwicklung darzustellen, gescheitert. Levy-Bruehl hatte diese Schlußfolgerung wagen dürfen, weil er es ja gleichzeitig zu zeigen unternahm, wie jene angeblich mystisch-prälogische Denkweise das ganze Denken der Naturvölker bestimmte, ansonst ja ein mystischer Einschlag im Bereiche des Religiösen gar nicht als etwas für „Primitive" besonders Typisches hätte gelten können. Diese Konsequenz, mit der er seine Lehre von der größeren Tierähnlichkeit des primitiven Geistes aufbaute, hat notwendig auch zu deren Zusammenbruch geführt. Es gebührt Levy- Bruehl nichtsdestoweniger das Verdienst, die wissenschaftliche Forschung auf ein bis- hin kaum begangenes Gebiet geführt, ihre Fragestellung vorangetrieben und schließlich nicht geschwiegen zu haben, als er die Unzulänglichkeit seiner Theorie erkannte.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung