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BORIS PASTERNAK / OER GANG INS „TOTENHAUS“

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Boris Pasternak hat auf den ihm für sein Buch „Dr. Schiwago“ verliehenen Nobelpreis für Literatur 1958 verzichtet. Verzichtet als Staatsbürger der Sowjetunion, nachdem er ihn in der ersten privaten Reaktion „froh, bestürzt, stolz und beschämt“ angenommen hatte. Der Fall Pasternak zeigt, wie schizophren die Existenz des Geistig-Schaffenden in totalitären Staaten zwangsläufig verläuft. Pasternaks Verzicht wurde durch zwei Phänomene, die eng miteinander zusammenhängen, ausgelöst: in der außersowjetischen, westlichen Welt wurde die Verleihung des Nobelpreises an ihn begrüßt als eine mannhafte Tat des Protestes wider geistige Unfreiheit, Gewissenszwang und Terror der Sowjetunion. Gleichzeitig entfalteten die alten Feinde Pasternaks, die Kollektivverbände der Neidgenossen, die Vereine der sowjetischen Dichter, Literaten, Kritiker, Journalisten und Parteiapparat-schiks, insgesamt eine überwältigende Mehr-heit kleiner Geister, eine Kampagne gegen den bei Moskau zurückgezogen lebenden Mann. Es ist keineswegs sicher, ob diese Hetze den Führern des sowjetischen Staates von vornherein ins Konzept paßte: man hätte, im wohlverstandenen Interesse der Sowjetunion, mit Pasternak eine weltweite Propaganda entfalten können, wenn man mit ihm als Star neben den anderen Sternen, den sowjetischen Naturwissenschaftlern, die ebenfalls den Nobelpreis dieses Jahres erhielten, in Stockholm aufmarschiert wäre. Die Tatsache, daß die Machthaber in der UdSSR es sich einfach innenpolitisch nicht leisten konnten, Pasternak zu pardonieren, ja in ihrem Sinne herauszustellen, zeigt, wie schmal ihre innere Basis ist. Gegen die Macht der Interessenverbände, hier der schreibenden Klassen, die alle und insgesamt spinnefeind dem Genie, dem freien, unabhängigen Geist sind, er sei auch, wer er sei, konnte man sich nicht entschließen, anzukämpfen.

Dazu kommt ein anderes: man nimmt, von oben her, in der Sowjetunion, den Geist ernster und gewichtiger als vielfach geglaubt wird: Pasternaks Werk, nicht nur sein

Zeichnung: Lehmbeck

„Dr. Schiwago“, der den Sturm auslöste, ist als eine geistige Tat bereits auch eine politische Tat. Die Pardonierung Pasternaks hätte eine Springflut ausgelöst: schon warten ja, wie im Jahre vor der ungarischen Katastrophe gerade in Moskau, Leningrad und anderen Zentren der Sowjetunion sichtbar wurde, tausend Pasternaks auf ihre Stunde: auf die Stunde, in der der mächtige, nach Freiheit und Wahrheit strebende russische Geist die Fesseln abwerfen kann, die seiner unwürdig sind. In diesem Sinne haben die Machthaber richtig gehandelt: sie haben sich im Tage behauptet. Ob ihnen wohl dabei ist?

Der Fall Pasternak hat gerade in Rußland, dann besonders in Polen, bei der Intelligenz ein ungeheures Aufsehen erregt: der Autor ist im Lande zum Zeugen für eine bessere, künftige Welt geworden. Wenn er nun in der Sowjetunion bleibt, schweigend lebend und arbeitend, dann gilt auch dies: der verstummende Pasternak spricht das Wort der Freiheit in dies riesige Land hinein, nach wie vor, so wie es die bereits berühmt gewordene Episode aus naher Vergangenheit dokumentiert: Der Dichter hatte nach langer Zeit zum erstenmal wieder eine öffentliche Lesung seiner Gedichte gehalten; da entglitt ihm ein Blatt — bevor er es wiederfand, hatte das gesamte Auditorium begonnen, seine Verse, die zwanzig Jahre nicht mehr publiziert worden waren, auswendig zu rezitieren. Der Geist hat gerade auch in Rußland einen langen Atem: der Fall Pasternak wird auch in Rußland aufgerollt werden, so wie seinerzeit der Fall Dostojewsky nicht abgeschlossen war, als sich die Kerkertore der Katorga hinter ihm schlössen. „Memoiren aus einem Totenhaus“, so nannte bekanntlich Dostojewsky seinen Erinnerungsbericht an Sibirien. Damals wie heute erschrickt die Welt, in Scham und Bestürzung, wie viele freie, innerlich ungebrochene Menschen in den Ghettowelten des Ostens leben ...

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