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Boris Pasternaks „Doktor Schiwago“.

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Kaum jemals hat ein Nobelpreis in Schweden, der Heimat der Nobelpreise, eine ähnliche Unruhe hervorgerufen wie der an Boris Pasternak vergebene im November 195 8. Man fragte sich, ob das Buch wirklich die Auszeichnung verdient und ob bei der Wahl nicht vielleicht Motive mitgespielt hätten, die das Werk überschätzten. Es geschieht freilich nicht zum erstenmal, daß solche Zweifel laut werden: nach der Verleihung des Nobelpreises an Gabriela Mistral 1945 war es ebenso der Fall, und eigentlich mehr oder weniger nach jedem Preis. Aber diesmal war die Frage wegen der ehrenrührigen Vorwürfe gegen die Akademie besonders gegeben.

Der schwedische „Doktor Zjivago“ (Stockholm, Bonniers), der am letzten Oktobertag in den Auslagen der Buchhandlungen auftauchte — die erste skandinavische Uebersetzung nach der italienischen, deutschen, französischen, englischen — fand schnellen Absatz: innerhalb weniger Tage verschwand die erste Auflage. Das gekaufte Buch beruhigte doch zunächst den Leser wenig: er fand sich in der Menge der Personen — 27 — und Szenen kaum zurecht, und die vielen angeschlagenen und wieder verlorenen Motive wirkten verwirrend. Je mehr man aber eindrang in die 600 Seiten, um so mehr ergab sich eine Ueber-sicht. Man merkte, wie die Motive sich verketteten, die Intention hervortrat, ein großer Plan vorlag. Die russische Revolution erschien hier trotz lebensnaher Details aus einem Abstand gesehen, ähnlich der napoleonischen Invasion in „Krieg und Frieden“. Weder propagandistische noch naturalistische Momente dominierten, sondern ein religiöser Blick auf das Gewaltige eines Millionen umfassenden Ereignisses. Der Leser konnte es sich also sparen, darüber beunruhigt zu sein, ob „Verdienst“ vorlag oder nicht. Eine Persönlichkeit sprach sich aus: mit dem selbstverständlichen Mut ihres So-und-nicht-anders-Seins.

Doktor Schiwago ist der Held eines offenbar stark autobiographischen Romans. Zu Beginn der Handlung — vor 1905 — ist er ein kleiner Junge, der seine Eltern verloren hat und bei Verwandten aufwächst. Er stammt aus einer gebildeten, reichen Ea-rfrffie, die doch nicht konservativ am Zarenregime hängt, sondern ihre Sympathien auf Seiten der Opposition hat. Er studiert Medizin, heiratet noch vor 1914 ein Mädchen aus bürgerlichen Kreisen, dient während des Krieges als Militärarzt. 1917, bei Ausbruch der Revolution, begibt er sich zu seiner Familie nach Moskau, wo er mit ihr hungert und friert, und dann beginnt für ihn eine Odyssee in dem vom Bürgerkrieg zerrissenen Rußland. Er fährt mit den Seinigen auf ein Familiengut im Ural, wo er seine Existenz zu finden hofft. Dort erlebt er eine erotische Passion, die ihn, den Mann der Ordnung, vor die moralische Konsequenz eines Ehebruchs stellt. Es wird ihm jedoch nicht Zeit gelassen, damit zur Klarheit zu kommen: eine Partisanengruppe, die dringend einen Arzt braucht, entführt ihn und zwingt ihn, bei ihr Dienst zu tun. Man kämpft gegen die „Weißen“. Er erlebt eine Hölle dort und desertiert, und als es ihm endlich gelungen ist, Moskau zu erreichen, erfährt er, daß seine Familie ins Ausland geflohen ist. Ein neues Verhältnis erweist sich als unglücklich, weil die Frau dadurch in Lebensgefahr gerät- sie ist mit einem General der Roten Armee verheiratet. Er versucht sich als Dichter. Seinen Beruf als Arzt hat er nur gewählt, weil er mit Schreiben nicht seinen Unterhalt bestreiten wollte. Vergeblich sucht er einen Ausweg aus dem Chaos seiner Zeitgebundenheit. Da stürzt er in Folge einer Herzattacke vor, der Straßenbahn und stirbt: einen symbolischen Tod. Man schreibt 1929, als dieses Ende erreicht ist.

Eine Fülle von Details versetzt den Leser mitten in das apokalyptische Geschehen. Ein kleines Mädchen erlebt in einem abgelegenen Haus den Einbruch eines Banditen. Die Mutter, der die List geglückt ist, den Mann in den Keller zu sperren, muß hören, wie ihr jüngster Sohn, der vorauseilte, als unfreiwilliger Geisel von eben diesem Mann da unten gemordet wird. Entsetzt läuft das Mädchen ins Freie um Hilfe, hält einen Zug an, der eben vorbeifährt. Den herausspringenden Rotgardisten erzählt sie, was geschehen ist. Sie folgen ihr, holen den Banditen aus dem Keller, legen ihn über die Schienen, lassen den Zug über ihn rollen. Der Schrecken erinnert an Grimmelshausen.

Eine andere Szene. Doktor Schiwago, der in Sibirien als Feldarzt dient, wohnt bei einem Partisanenhäuptling. Er muß, nachdem er angestrengt am Tag gearbeitet hat, in den Nächten die Doktrinen des Unentwegten über sich ergehen lassen, und das erschöpft ihn so, daß er beschließt, den Freischärler zu ermorden. Der Zufall will es aber, daß er von dem Plan anderer Antagonisten erfährt, den Mann durch ein Attentat aus dem Weg zu räumen, und da zögert er nicht, diesen zu warnen und dadurch dessen Leben zu retten.

Während der Diskussion mit ihm sagt Doktor Schiwago: „Ich gebe zu, daß ihr Rußlands Feuerbacken und Befreier seid, daß es ohne euch untergegangen und in Elend und Unwissenheit versunken wäre, aber ich will trotzdem nichts mit euch zu tun haben, ich kümmere mich nicht um euch, ich ertrage euch nicht, ihr könnt zur Hölle fahren ...“

Und er sagt ihm noch deutlicher, „daß die Liebe sich nicht zwingen läßt“ und seine Gesinnungsgenossen „eine eingewurzelte Gewohnheit haben, besonders die zu befreien und glücklich zu machen, die nicht darum bitten“.

Die Hältung Doktor Schiwagos ist trotzdem keine antirevolutionäre, aber eine, die sich die persönliche Freiheit vorbehält. Hier liegt der große Wert des Werkes, aber auch die Ursache für die Empfindlichkeit seiner Kritiker, die Pasternak „furchtbar egozentrisch“ und „den Massen fremd“ bezeichnen.

Man darf nicht vergessen, daß er aus einem liberalen Heim stammt. Der Vater Leonid war Maler, die Mutter Konzertpianistin, ihr Nachbar der Komponist Skrjabin, er selbst mit Rilke und Verhaeren befreundet, Hörer der Philosophie bei Professor Cohen in Marburg, Er übersetzte Shakespeare, Goethe, Kleist. In seinen Erinnerungen erzählt er von einer Reise zum Begräbnis Tolstojs 1910: wie sich bei dieser Gelegenheit die Repräsentanten der Weltpresse am Büfett der Bahnstation Astapovo das Essen schmecken ließen.

„Doktor Schiwago“ schließt mit einer Reihe von lyrischen Gedichten, dem „literarischen Nachlaß“ des Helden, von denen das letzte, das somit das Ende des Romans darstellt, „Christus in Getsemane“ heißt. Seine letzten Zeilen lauten: „Ich sterbe und werde am dritten Tage wieder auferstehen — auch für dich. Wie verirrte Flöße auf den Strömen, Karawanen des Blutes, fließen die Jahrhunderte meinem Lichte zu, und ich werde sie richten.“

Mag Pasternak auch seinerzeit ein Gedicht zum Preis von Lenins Beredsamkeit geschrieben haben — er ist heute ein religiöser Dichter. Zum erstenmal seit Jahren bildet sich über „Doktor Schiwago“ eine geistige Brücke zwischen Osten und Westen.

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