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MACHT UND OHNMACHT EINES DICHTERS

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Der große Sturm um Boris Pasternak hat sich gelegt. Darum können wir jetzt einige der Dinge, die dabei zum Vorschein kamen, in die rechte Perspektive rücken.

Worin, vor allem, bestand die wahre Bedeutung der Proteste, die sich in allen Teilen der Welt erhoben, als Pasternak in der Sowjetunion mit massiven Drohungen und Anfeindungen unter Druck gesetzt wurde? Diese Proteste waren nach meiner Ansicht die einzig richtige Antwort auf die erbärmlichen Ausreden, mit denen der Dichter selbst gezwungenermaßen den Nobelpreis für Literatur zurückweisen mußte, Pasternak begründete seinen Verzicht vor allem mit der besonderen Psychologie der Volksgemeinschaft, der er angehöre und auf die er bei realistischer Betrachtungsweise Rücksicht nehmen müsse. Aber die starke Anteilnahme und die stürmischen Proteste, die diese Episode in der gesamten zivilisierten Welt hervorrief, bezeugen, daß es hoch eine andere Gemeinschaft gibt, die größer ist als jene Volksgemeinschaft und der Pasternak als Mensch und überragender Künstler ebenfalls voll und ganz angehört.

Uns allen war bei der Erörterung der Pasfernak-Affäre bewußt, daß wir uns nicht unbefugt in die inneren Angelegenheiten eines fremden Landes einmischten. Pasternak isf unser Kollege. Er gehört ebenso zu uns wie zu den Russen. Er ist ein Stück von dem, was Goethe als die Weltliteratur bezeichnete. Die Gemeinschaft der Künstler und der Freien, die keine Grenzen kennt, fühlte sich durch das schandbare Verhalten der sowjetischen Kulturbürokrafen beleidigt und verletzt. Wir haften das Recht und die Pflicht zur Stellungnahme. Pasternak gab der Sache der Freiheit und der Kunst ganz unerwartet einen Namen und ein Gesicht. Mit ihm stand unsere Würde und Ehre als Schriftsteller auf dem Spiel. Die simple Tatsache, daß ein Roman in den Mittelpunkt des Interesses der Weltöffentlichkeit rückte, beweist eindringlich, welche Bedeutung wahre Kunst noch immer im Leben der Vöker besitzen kann.

Der Fall Pasternak hat uns auch zu einer klareren Vorstellung vom gegenwärtigen Zustand des kulturellen Lebens im Sowjetimperium verhalfen. Wir wußten bereits, daß das „Tauwetter’ nur von kurzer Dauer war. Wir wußten auch, daß sich bei den Kulturinstitutionen, den Verlagen, den Schriftsteller- und Künstlerverbänden, den Zeitschriftenredaktionen nichts geändert hatte, daß ihre Leitung nach wie vor in den Händen der von Shdanow eingesetzten Leute lag. Aber wir hätten niemals gedacht, daß die Anmaßung dieser Herren solche wahnwitzigen Formen annehmen würde. Gewiß befürworten wir deswegen noch immer nicht den Abbruch der kulturellen Beziehungen zur Sowjetunion; wir sind nach wie vor für die Freizügigkeit von Personen und Ideen. Aber wir werden die Namen jener sowjetischen Literaten nicht so bald vergessen, die die schändliche Kampagne gegen Pasternak inszenierten und dafür verantwortlich sind, daß der Moskauer Schriftsfeilerverband die Regierung ersuchte, Pasternak das Recht abzusprechen, in der Sowjetunion leben und arbeiten zu dürfen. Wir müssen warten, bis einer dieser Herren zu einer internationalen Konferenz nach Venedig, Rom, Zürich oder Paris erscheint, um von ihm Rechenschaft für dieses Bubenstück zu fordern. Gewiß haben sieh in neuerer Zeit und in der Vergangenheit auch andere Schriftsteller unrühmlich angeführt. Aber die Literaturgeschichte keines Landes kennt ein erbärmlicheres Schauspiel als dasjenige der Verdammung eines Romans durch eine Versammlung von 800 Literaten, die ihn noch nicht einmal gelesen haben. Selbst die spanische Inquisition ist, nicht einmal in ihrer dunkelsten Periode, solch abgrundtiefer Niedertracht und Borniertheit fähig gewesen.

Anscheinend haben sich einige Sowjetschriftsteller, darunter verschiedene berühmte Dichter, nicht an deraallgemeinen Hetze gegen Pasternak beteiligt. Wir wollen hoffen, daß man darüber noch mehr .erfährt. Es erhebt sich jedoch die Frage: Ist es angesichts des Konformismus des Schriftstellerverbandes dankbar, daß er einberufen wurde und diese wahnwitzigen Beschlüsse faßte, ohne vön den obersten vpofinscheh Instanzen den ausdrücklichen Befehl dazu erhalten zu haben? Nein, das isf undenkbar. Wie soll man es sich dann aber erklären, daß diese Beschlüsse nicht vollstreckt wurden? Mir will scheinen, als sei die offensichtliche Reue von den Nachrichten über die infernen und internationalen Rückwirkungen des Skandals ausgelöst worden, die inzwischen bei Chruschtschow eingegangen waren. Er muß gemerkt haben, daß ihm die Shdanowisten im sowjetischen Kulturapparat ihr Spiel aufgezwungen hatten, und so bot er Pasternak einen Vergleich.

Der Brief, den Pasternak an Chruschtschow schrieb, bereitete vielen Bewunderern des „Doktor Schiwago” eine herbe Enttäuschung. Aber wer will darüber richten? Wir müssen unsere Phantasie zu Hilfe nehmen, um uns die Lynchafmosphäre zu vergegenwärtigen, die Pasternak etwa zehn Tage lang umgab.

Der Brief isf übrigens recht merkwürdig, befeuert doch Pasternak in dem kurzen Schreiben nicht weniger als viermal, daß er diese Erklärung aus freien Stücken, ganz ohne Gewaltanwendung, Erpressung oder Veranlassung von anderer Seite abgegeben habe. „Man hat mich weder bedroht noch gezwungen”, lesen wir. „Nichts kann mich veranlassen, meinem Gewissen zuwiderzuhandeln..." — „Ich habe auf den Preis verzichtet, ohne daß mich irgend jemand dazu gezwungen hätte”, und so fort. 1st das nicht zu dick aufgetragen für einen freien Mann mit ungetrübter Seelenruhe? Pasternaks Brief basiert ferner auf der Verherrlichung seiner Heimaterde und erinnert damit bedenklich an die notorische Blut-und-Boden-Sentimentalität, die in schroffem Gegensatz zu der internationalistischen Tradition der Begründer des russischen Kommunismus, welche fast alle das Exil kennengelernf haben, aber auch zu Pasternaks eigenem Werk steht.

Schließlich entsprechen die Angaben des Pasternak-Briefes über die Umstände, unter denen die Veröffentlichung des „Doktor Schiwago” zustande kam, nicht der Wahrheit. Der Verleger Felfrinelli hat gut daran getan, auf eine Richtigstellung zu verzichten — denn wer würde mit einem Gefangenen polemisieren wollen? Doch sei uns gestattet, an eine Episode aus der Zeit der großen Stalin-Prozesse zu erinnern, die uns in diesem Zusammenhang in den Sinn kommt: Ein Angeklagter, zu dem Geständnis gezwungen, daß er sich mit dem Sohne Trotzkijs in einem Kopenhagener Hotel getroffen habe, gab damals einen frei erfundenen Hotelnamen an — und daraus, daß dieses Detail flicht stimmte, konnte man im Ausland die Unglaubwürdigkeit der gesamten Aussage ableiten.

Leider war Pasternak in jenen Tagen von dem hysterischen Geschrei der Moskauer Literaten zu sehr benomYnen, um zu begreifen, daß er dank des Alarmzusfandes der Weltöffentlichkeit stärker war als seine Gegner. Aber der „Doktor Schiwago’ wird alle Polemik überdauern; das isf die Revanche, die keine Diktatur dem Dichter verweigern kann.

Wenn ich an die fünf Offiziere denke, die zu finden ich nach London kommen mußte, ist es mir deutlich, daß in jedem von ihnen noch ein Funken lebendig war von dem edlen Ritter, der so viele tapfere Männer ohne Rücksicht auf ihre Nationalität in einem Körper vereinigt hatte und auf dessen wahrhaft ritterlichen, patriotischen und tapferen Geist auch wir nicht verzichten können im neuen Oesterreich.

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