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Polnische Sorgen

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Polnische Sorgen? Von zweien ist in der Presse ständig und offen die Rede, doch nur eine davon ist e’.ne echte Sorge, nämlich die deutsche Aufrüstung und die Angst vor einem vom „deutschen Militarismus“ entfesselten dritten Weltkrieg. Die andere, das eben beendete neunte Plenum des Zentralkomitees der herrschenden Kommunistischen Partei (PZPR), über das und über dessen Beschlüsse die Zeitungen viele Spalten lang berichteten, beschäftigt die große Mehrheit der Bevölkerung, die der PZPR inbegriffen, gar wenig und nur insoweit, als man von den formell der Tagung vorgelegten Entscheiden über „die grundlegenden Probleme der Volkswirtschaft“ eine Auswirkung auf das eigene Dasein erwartet oder eher befürchtet. Die beiden anderen großen Sorgen der Polen aber werden in d :n täglich oder wöchentlich erscheinenden Blättern nie geradeheraus genannt. Man muß sie zwischen den Zeilen lesen, was bei der Wohnungsfrage nicht schwer ist, oder itn Gespräch erfahren, dessen unbehinderte Fieiheit den auswärtigen Besucher ebenso überrascht, wie ihn das absolute Schweigen in Rundfunk und Zeitung empört. Es handelt sich dabei um den schlimmsten der Alpdrücke, die auf einer schwergeprüften Nation lasten: die Furcht vor den Atomwaffen. Über die sowjetischen Versuche, den gigantischen, vorläufig letzten eingeschlossen, hat die polnisch? Presse seftj ehe nicht die ersterv-Andeutunecn auF dem Umweg über’ die Wiedergabe einer Rede Chruschtschows diese Erzfrage der Gegenwart und der nächsten Zukunft druckfähig gemacht hatten.

Nun wäre es freilich weit gefehlt, zu glauben, die Öffentlichkeit habe infolge dieses Schweigens nichts von den Wasserstoffbomben im Norden und von der Erregung erfahren, die darüber bei den westlichen Völkern und bei den Neutralen entstanden ist. Das polnische „Specificum“ (wie man derlei hier nennt) einer Zensur zeichnet sich — im Gegensatz etwa zur Sowjetunion, wo die gesamte Einwohnerschaft nur die offiziellen Darstellungen in der gleichgeschalteten heimischen Presse zu Gesicht bekommt und auch nur auf deren absoluten Wahrheitsgehalt schwört — dadurch aus, daß eine relativ breite Schicht von Gebildeten, die fremder Sprachen kundig sind, die ausländischen Zeitungen, englische, französische, deutsche, Schweizer, frei kaufen und fremde Rundfunkstationen hören kann. Daß sich die zur sowjetischen und zur amtlichen polnischen in striktem Widerspruch beharrenden Lesearten mit Windeseile innerhalb einer rund eine halbe Million Köpfe zählenden, noch immer an den Hochschulen, in Literatur und Kunst, in Technik und Wirtschaft, freilich nicht in der Staatsführung und in der Armee unentbehrlichen Schicht, verbreiten. Diese Meldungen, und nur sie, werden in eben dieser Elite geglaubt, und sie dringen darüber hinaus in die Arbeiterschaft, vor allem ins heftig antikommunistisch gebliebene Kleinbürgertum, und zu den fortgeschritteneren Bauern im polnischen Westen. Kein Wunder, daß 111 einem Land, das innerhalb einer Generation zweimal die Schrecken des Krieges aufs tragischste ausgekostet hat, ein chronisches Unbehagen obwaltet, eine dumpfe Scheu vor dem unbekannten Morgen.

Kerzen am Grabe Bieruts

Dadurch erklärt sich, was nicht oft genug betont werden kann, die den Fernerstehenden schier unbegreifliche Tatsache, daß sich nicht etwa die nach wie vor sehr spärlichen echten Kommunisten, sondern eine stets wachsende Zahl von Gegnern jeder Spielart des Marxismus, von Menschen, die den alten Nationalhaß gegen die Russen innerlich nicht überwunden haben, dem Bündnis mit der UdSSR aus Überzeugung zuwendet, weil sie erstens nur darin einen Schutz vor einem dritten Weltkrieg erblickt, zweitens, da Chruschtschow gegen den sogenannten Personenkult, den Stalinismus (oder wie man das nennen will), also gegen die Moskauer Kriegslustigen auftritt. Es ist so weit gekommen, daß sich Nikita Sergej ewitsch bis in katholische Sphären starker Sympathien erfreut, daß man ihn als Hort des Friedens betrachtet und daß man allen Grimm auf Stalin" rück- blendet. Dabei hat die stets ritterlichen Polen sehr vieles an den jüngsten Maßnahmen des Kremls geradezu angeekelt, so die Entfernung der Leiche des einst Vergötterten aus dem Mausoleum auf dem Roten Platz oder die Umbenennung von Stalingrad (in Polen hat man derartiges mit mehr Fug sofort nach dem Oktober 1956 vorgenommen, als Katowice wieder seinen vorigen Namen zurückbekam, nachdem es während einiger Jahre Stalinogrod geheißen hatte). Wie anders aber gebärdet sich ein christliches und von orientalischen Methoden angewidertes Volkl Zu Allerseelen konnte man beobachten, wie Tausende beim Friedhofbesuch zum Grab Bieruts schritten, sich fromm bekreuzigten, eine Kerze entzündeten und für des Verstorbenen beteten, weil sie aus dei Rückschau die Ansicht hegen, Bierul habe immerhin Schlimmeres verhüte) und sei zwar Stalinist aus Zwang, doch kein Miniaturstalin aus Neigung gewesen.

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