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Defferre tritt an

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Im sozialistischen Lager Frankreichs herrscht nach Abschluß des außerordentlichen Parteikongresses der SFIO (Section francaise de l'Internationale ouvriere) eitel Zuversicht: Nach zweitägigem Ringen war es überraschend gelungen, eine Kompromißformel für die gegnerischen Konzeptionen des Generalsekretärs Guy Mollet und des Mar-seiller Bürgermeisters Gaston Defferre zu finden und die Nominierung Defferres zum Präsidentschaftskandidaten „aller Sozialisten und aller Republikaner“ offlaiell als einstimmigen Beschluß der Partei zu verkünden. Noch wenige Stunden vor dieser Entscheidung sah es so aus, als ob es nur eine Alternativlösung geben könne — entweder eine Uberstimmung des Generalsekretärs durch die Delegierten (was fraglos zu einer Parteikrise geführt hätte) oder den Verzicht des südfranzösischen Bürgermeisters auf seine Kandidatur gegen de Gaulle.

Auf einen Nenner gebracht, läßt sich der ursprüngliche Gegensatz so formulieren, daß Defferre „ohne Parteifesseln“ als Kandidat der gesamten Linken anerkannt werden wollte und entsprechende Vertrauensvollmachten forderte, während Mollet seinen Mitstreiter in erster Linie als Repräsentanten der Sozialisten, der sich an das Programm der SFIO gebunden fühlt, zu sehen wünschte. Die „mittlere Ebene“, bei der — wie eine Pariser Zeitung schrieb — Defferre einige Federn ließ, während Mollet einen Flügel verlor, sah schließlich wie folgt aus: Der Generalsekretär verzichtete auf eine ausdrückliche Parteibindung des neuen Kandidaten, wofür er von diesem einige Retuschen an seinem Präsidentschaftskonzept einhandelte. Soweit sich die Sachlage überblik-ken läßt, machte Defferre seinem Parteichef Konzessionen im Bereich der Anwendung der Verfassung der Fünften Republik, der Distanz, die gegenüber dem Gaullismus einzunehmen sei, und der Gewaltenteilung. Wie wir von einem prominenten Mitglied des Parteidirektoriums erfahren konnten, hatte Defferre ursprünglich mit dem Gedanken gespielt, im künftigen Staatspräsidenten einen Chef der Exekutive zu erblicken und die politische Richtung der Nation zu bestimmen. Die angenommene Entschließung stellt ausdrücklich fest, daß die Regierung — und nicht der Staatspräsident — die Politik der Nation bestimmt und realisiert.

Im übrigen ist die Entschließung ziemlich allgemein gehalten. Der Staatspräsident wird ausdrücklich als Garant der Verfassung von 1958 „hinsichtlich ihres Geistes und ihres Buchstabens“ genannt. Das Schwergewicht der Aktion wird auf die nationale Erziehung, die demokratische Planung „mit einem sozialen Plan in der Form eines nationalen Fortschrittskontrakts“ und die Integration Europas gelegt. Über die Kommunisten, mit denen Guy Mollet wochenlang mit dem Ziel der Gewinnung ihrer Stimmen unter dem Motto, daß sich zunächst alle demokratischen Kräfte zum Sturz de Gaulles sammeln müßten, verhandelte, wurde kein Wort verloren. Diese Verhandlungen waren schließlich in der Sackgasse steckengeblieben, weil die französischen Kommunisten sich zwar entgegenkommender denn je zeigten, jedoch von ihrer Forderung nach einem „gemeinsamen Programm“ nicht abwichen. Die sozialistische Parteileitung hofft, durch die Nichterwähnung des heiklen Themas zwei Fliegen auf einen Schlag erledigt zu haben: Die Kommunistengegner werden nicht vor den Kopf gestoßen, und den Kommunisten selbst bleibt — wollen sie nicht weiterhin als zahlenmäßig stärkste Linkspartei in der Isolierung verharren — keine andere Wahl, als sich dem sozialistischen Präsidentschaftskandidaten anzuschließen. Daß die SFIO die psychologische Klippe einer Volksfrontrenaissance zu umschiffen vermochte und die Partei geeint aus dem außerordentlichen Kongreß hervorgehen konnte, ist in erster Linie der geschickten Vermittlerarbeit des ehemaligen sozialistischen Innenministers Jules Moch zu danken, der hinter den Kulissen eine Koordinierung der Standpunkte Guy Mollets und Gaston Defferres herbeizuführen vermochte.

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