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Der Verfassungsstaat kann stark sein

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VERFASSUNGSLEHRE. Von Ferdinand A. H e r m e n s. Athenäum-Verlag, Frankfurt am Main—Bonn. 811 Seiten. Preis 48 DM.

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VERFASSUNGSLEHRE. Von Ferdinand A. H e r m e n s. Athenäum-Verlag, Frankfurt am Main—Bonn. 811 Seiten. Preis 48 DM.

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„Dieses Buch ist em Protest gegen die Auffassung, daß der demokratische Verfassungsstaat notwendigerweise schwach sei und sich gegenüber dem Extremismus der Linken und der Rechten in der Defensive befinden müsse. In Wirklichkeit kann der Verfassungsstaat stark genug sein, diese Auseinandersetzung zu gewinnen.“ Diese Sätze des Vorwortes kennzeichnen das Hauptanliegen, das F. A. Her- mens, Ordinarius für Politische Wissenschaften in Köln, zum roten Faden seiner „Vejfassungslehre“ macht.

Ein entscheidendes Mittel, den demokratischen Verfassungsstaat stark und weitgehend immun gegen die Angriffe der antidemokratischen Kräfte zu machen, sieht der Autor in der politischen Form. Die politische Form wird definiert als die Summe jener Faktoren, welche die Aufgabe des Transformators erfüllen, der zwischen den Kräften der Gesellschaft auf der einen und der für den Staat erforderlichen Einheit auf der anderen Seite stehen muß; oder wird ganz einfach als Verfassung bezeichnet — nicht im formellen, sondern im allgemeinen, materiellen Sinn. Es ist also der Sinn und die Aufgabe der politischen Form, die sozialen Kräfte zu integrieren und so diese Kräfte überhaupt erst politisch konstruktiv werden zu lassen. Die politische Form ist nicht das unvermeidliche Resultat der sozialen und ökonomischen Kräfte, sie ist, ohne die sozial-ökonomischen Faktoren zu übersehen oder zu unterschätzen, in einem großen Ausmaß Gegenstand einer freien Wahl. Damit wendet sich Hermens entschieden gegen die Ausschließlichkeit der ökonomischen Geschichtsbetrachtung, die das Bewußtsein um die Stärke der Demokratie ' verkümmern läßt und schließlich in einem Fatalismus mündet, da in der politischen Form dann nicht mehr ein wirksames Mittel zur Verteidigung der Demokratie und des Verfassungstaates erkannt werden kann. Nicht bloß ein Faktor, sondern, drei Faktoren sind es, die das politische Handeln bestimmen: die politische Form, die sozialen (und Ökonomischen) Kräfte und die politische Entscheidung.

Die heute oft so ungeheuer unter- ichätzte Funktion der politischen

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seines Werkes systematisch dar und erläutert an Hand der historischen Entwicklung ihren Einfluß. Die beiden Pole der politischen Struktur, Demokratie und Herrschaftsstaat, werden einander gegenübergestellt. Besonders interessant ist in diesem Abschnitt die Analyse der Tyrannis; es wird die Konnexität von Anarchie, Demagogie und Diktatur herausgearbeitet sowie die Verwandtschaft von perfektionistischem Idealismus und Barbarentum aufgezeigt. Demokratie benötigt Autorität, ohne Autorität (Hermens differenziert genau zwischen Autorität und Autokratie) entsteht Anarchie, und Anarchie ist die notwendige Voraussetzung für die Tyrannis. Tyrannis ist „unterdrückte Demokratie“, das heißt, Diktatur entsteht in einer „zur Demokratie neigenden Umwelt“.

Zur Verhinderung dieses Vorganges, dieses Umschlagens von der Demokratie zur Diktatur, ist nicht nur die Orientierung an Zielen (zum Beispiel Menschen- und Bürgerrechte) notwendig, sondern im selben Außmaß die Wahl der richtigen Mittel, eben die Wahl der politischen Form. Ein wichtiger Faktor wird von Hermens im Wahlsystem erblickt. Das Mehrheitsprinzip im Einmannwahlkreis bietet die größtmögliche Garantie für die Herausbildung eines Zweiparteiensystems und damit für die Integrierung der gesellschaftlichen Kräfte in zwei Hauptkanäle. Diese müssen nun wieder, im Kampf um die Mitte, zentripetal orientiert sein und dienen somit der Verstärkung des grundsätzlichen Konsums, ohne den es keine Demokratie geben kann.

Im zweiten Teil des Buches, „Die konkrete Gestaltung des Verfassungsstaates“, werden die Grundzüge der wichtigsten Verfassungen skizziert. Hier vergleicht der Autor die britische parlamentarische Regierungsform mit den kontinentaleuropäischen Typen — die primäre Beurteilung politischer Institutionen hier nach ihrem tatsächlichen Funktionieren, dort auf Abstraktionen gegründet, die von Idealbildern deduziert werden; hier Pragmatismus, dort extremer Rationalismus. Dieser Vergleich fällt bei Hermens zugunsten des britischen politischen

nd rechtlichen Denkens aus. Em elativ günstiges Urteil wird über ie Verfassung der 5. Französischen lepublik gefällt; Hermens nennt sie ine „potentiell fruchtbare Konzepten“. Trotz verschiedener Vorbe- alte — so finden die starke Aus- ichtung an der Person des Präsi- enten der Republik und dessen in der Verfassung zum Ausdruck ommendes) generelles Mißtrauen egen politische Parteien keineswegs den Beifall des Autors — er- üllt doch gerade die Verfassung der . Republik weitgehend die Forde- ung nach einer Verstärkung der Widerstandskraft und Dynamik der iemokratie durch eine virtuose landhabung der politischen Form lit den Mitteln und im Dienste der )emokratie. Im Zusammenhang mit

den einzelnen Verfassungen zeichnet Hermens Bilder der europäischen Parteien — so das der Sozialisten, immer tapfer auf der Seite der Demokratie kämpfend, aber unter Verkennung der politischen Form als eines selbständigen dynamischen Faktors (Ausnahme: Labour-Party) und sich selbst so eines wirksamen Mittels zum Schutz und Ausbau der Demokratie beraubend.

Das vorliegende Buch ist ein über- : aus wichtiger Beitrag zum Verständnis der Eigengesetzlichkeiten einer modernen Demokratie. Gerade wird (man wird die politische Wis- ' senschaft so sträflich vernachlässigt wird (man wird die Politische Wis-

senschaft in den Vorlesungsver- zeichnissen der österreichischen 1 Universitäten vergeblich suchen),

müßte es auf fruchtbaren Boden

fallen.

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