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Die unsichtbare Koalition

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Nicht einmal der Gutgläubigste wird den verantwortlichen Politikern abnehmen, daß bei einem Budget von 70 Milliarden die Nicht-etnigung über ein paar hundert Millionen Schilling den Rücktritt der Regierung verursacht hat

Wenn aber nicht die Differenzen 'um den Bundeshaushalt 1966 einen Regierungsrücktritt rechtfertigen, was hat dann in der Nacht vom 22. auf 23. Oktober die Verhandlungspartner bewogen, wieder einmal eine Legislaturperiode vorzeitig zu beenden und Neuwahlen anzustreben? Mit Recht wurde in verschiedenen Kommentaren darauf hingewiesen, daß nicht erst seit 22. Oktober 1965, sondern schon seit einiger Zeit die Koalition nicht mehr so funktioniert wie einst im österreichischen Heldenzeitalter. Lebenswichtige Probleme, wie Wohnungsfrage, Reorganisation der Verstaatlichten Industrie, das Problem der europäischen Integration, die Kapitalmarktgesetze, die Entwicklung eines langfristigen Wirtschaftskonzeptes, Preisstabili-sierung, all das sind Punkte, die Monate hindurch auf der Tagesordnung standen, beraten und zerredet, aber nicht gelöst wurden. Die Krise der Koalition ist unbestreitbar da.

Es gibt nun maßgebende Kreise, nicht nur unter den Politikern, die beginnen bereits das propagandistische Trommelfeuer: Weg mit der unfruchtbaren Koalition. Das bisherige Regierungssystem hat sich überlebt.

Wir halten die Argumentation, welche in den letzten Jahren gegen jene angewandt wurde, die solche Meinung vertreten, für falsch. Es wird immer wieder mit Gespensterbeschwörungen gearbeitet. Der Vorwurf des Bolschewismus oder der Rechtsreaktionären Diktatur wird als schwerste Anklage gegen die vorgebracht, welche sich zu einem Regierungssystem wie dem englischen bekennen. Eine der beiden großen Parteien soll allein regieren, die andere soll in die Opposition gehen. Eine solche Form von politischer Auseinandersetzung kann über kurz oder lang nicht nur die Koalition wirklich auf alle Fälle töten, sondern zerstört die Demokratie überhaupt. Es ist kein echtes Argument für die Beibehaltung der Koalition. Wir akzeptieren als sehr ernst zu nehmende, durchaus legale demokratische Uberzeugung, daß manche Politiker koalitionsmüde sind und es einmal mit einem anderen Regierungssystem versuchen wollen. Trotzdem aber, wenn auch aus ganz anderen Überlegungen als der Verteufelung des politisch Andersdenkenden, halten wir die Auflösung der Zusammenarbeit zwischen den beiden großen politischen Lagern im gegenwärtigen Zeitpunkt und unter Berücksichtigung der realen Verhältnisse für falsch. Wir sind der Meinung, die Auseinandersetzung im kommenden Wahlkampf soll ruhig um das zentrale Problem, Fortsetzung der Koalition ja oder nein, gehen, aber ohne Schmutzkübelwerfen, persönliche Diffamierung oder leidenschaftliche Appelle an irrationale Masseninstinkte.

Was läßt sich nun an ernst zu nehmenden Punkten nach den Erfahrungen der letzten Jahre für die Beibehaltung der Koalition vorbringen? Für mich als Sozialisten spielt ein soziologisches Element eine gewaltige Rolle, das zu oft übersehen wird, wenn man fragt, warum gerade die Sozialistische Partei so sehr die Koalition befürwortet. Die Mitarbeit der Sozialisten in der Regierung ist doch Symbol für den gewaltigsten soziologischen Wandel, der sich in den letzten 50 Jahren vollzogen hat. Aus „vaterlandslosen Gesellen“, aus den Entrechteten und' aus der Gesellschaft Ausgestoßenen sind Mitträger und Mitgestalter des Staates geworden. Koalition ist für uns nicht nur ein politisches Zweckbündnis, das etwa zur Zeit der Be-satzungsmächte Sinn hatte, aber heute nicht mehr, sondern bedeutet für uns sichtbares Zeichen einer neuen Geschichtsepoche. Die Integration der Massen der Arbeiterschaft in den Staat konnte sich nur vollziehen mit der Übernahme - von Regierungsverantwortung. Niemand wird das mehr verstehen als der Österreicher. Die erste Republik ist doch entscheidend daran zugrunde gegangen, daß für die Masse der sozialdemokratischen Arbeiterschaft dieses Österreich kein Staat war, zu dem man sich über alle Parteigrenzen hinweg bekannte. Ausschluß eines Großteiles der Arbeitnehmer von der Mitregierung kann auch heute nur einen Rückfall in politische und soziale Verhältnisse bedeuten, die niemand wünschen kann, dem dieser Staat am Herzen liegt. Was für die Arbeiter und Angestellten gilt, hat meines Erachtens genauso Gültigkeit für die Bauern oder Gewerbetreibenden. Wir haben heute in Österreich zwei politisch gleich starke Lager. Zwei Mandatare auf oder ab können diese reale Ge-gegebenheit nicht wegwischen. Politische Lösungen müssen daher in Österreich notgedrungen Kompromißcharakter tragen. Entscheidungen müssen von beiden Wirtschaftspartnern akzeptiert werden, wenn sie mit einigermaßen Aussicht auf Erfolg in die Praxis umgesetzt werden sollen. Wie sollte solche gegenseitige Rücksichtnahme, die Respektierung der Anliegen der jeweils anderen im politischen Alltag besser realisiert werden als durch ein offizielles Arbeitsübereinkommen zwischen den beiden großen Parteien.

Manches hat in letzter Zeit nicht so funktioniert, wie es sollte. Das ist richtig. Aber ist daran unbedingt das System der Koalition schuld? Wir glauben nein. Manche auftretenden Schwierigkeiten gehen viel stärker auf menschliche Probleme, auf die persönlichen Verhältnisse in der Regierung und in den beiden Parteien zurück als auf das Koalitionssystem an sich. Diese Probleme würden auch nicht gelöst, wenn wir ein englisches, deutsches oder irgendein anderes Regierungssystem hätten. Die Lösung mancher politischer Unzukömmlichkeiten auf lange Sicht kann nur darin bestehen, daß langsam eine Generation politische Verantwortung übernimmt, welche mit keiner unbewältigten Vergangenheit mehr zu kämpfen hat. Allerdings soll auch zu diesem Problem der Wachablöse etwas offen gesagt sein: Wir haben in den letzten zehn Jahren so oft erlebt, daß eine neue Generation nicht unbedingt Verbesserung des politischen Klimas bedeutet. Es ist nur eine Chance. Ob sie genutzt werden kann, wird weitgehend an der politischen Erziehungsarbeit liegen, die wir in Österreich heute leisten oder auch nicht leisten.

Die junge politische Generation kann die Koalition heute nicht mehr auf dem Erlebnis der gemeinsamen Verfolgung, der Begegnung im Konzentrationslager oder im Kerker aufbauen. Diese Zeit ist für immer vorbei. Es liegt an den heute Verantwortlichen, eine neue, tragfähige Basis für die Zusammenarbeit zu finden.

Wo kann eine solche gefunden werden? Wir werden in Zukunft immer weniger darüber hinwegsehen können, daß nicht nur die Koalition,sondern die Demokratie schlechthin von der Existenz bestimmter geistiger Voraussetzungen abhängt.

•Abstimmungen sind erst möglich auf der Basis der Einigkeit über unabstimmbare Werte. Die Bejahung der Demokratie, das Bekenntnis zur Republik und zu Österreich, die Anerkennung der menschlichen Grund-und Freiheitsrechte sowie die Neutralität dürfen nicht in jedem Wahlkampf immer aufs neue beim anderen angezweifelt werden. Die unab-stimmbaren Werte der Demokratie müssen außerhalb der Parteien Streit stehen. Es müßte aber auch selbstverständlich sein, daß eine Zusammenarbeit mit einer Partei, die einen dieser Punkte nicht akzeptiert, nicht möglich ist. Eine Koalition mit KPÖ oder FPÖ sollte daher für eine demokratische österreichische Partei außer Diskussion stehen.

•Bei allen Auseinandersetzungen müssen wir heute sehr oft feststellen, daß die Gesprächspartner aneinander vorbeireden. Wir brauchen wieder eine gemeinsame Sprache. Gerade bei den heißesten Eisen. in der Wirtschafts- und Sozialpolitik könnten bessere statistische Unterlagen, mehr Sachlichkeit, die Anerkennung der Urteile von Fachleuten zwar kein Wunder wirken, aber zumindest vermeiden, daß an Stelle des Rechenstiftes Phrasen regieren.

•Bei- aller berechtigten Kritik sollen die positiven Leistungen anerkannt werden. Es wirkt merkwürdig, wenn dieselbe, die jahrelang zusammen in der Regierung sitzen, fürchterliche Anklagen erheben, was der andere alles nicht gemacht Hat, Der neuen Koalition und der Demokratie würden ein Mehr an Zivilcourage guttun. Man muß den Mut haben auch zu unpopulären Entscheidungen. Und seien wir keine Perfektionisten, die meinen, alles oder nichts. Ein Kompromiß, die Bereitschaft zur Toleranz sind nichts Schäbiges, sondern in einer Demokratie selbstverständlich. Seien wir auch etwas bescheidener. Jedes System hat Fehler und Schwächen. Lasten wir nicht ■ der Koalition an, was offenes Problem in jeder Demokratie ist. Wir denken etwa an das Auswahlverfahren in den demokratischen Parteien: Wie stößt heute jemand zur politischen Spitzengruppe vor? Leider sind es nicht immer die Besten. Aber das erleben wir ja nicht nur in Österreich.

Als letzten Punkt möchten wir noch darauf hingewiesen, daß jede fruchtbare Politik wenigstens ein Minimum an menschlichem Vertrauen verlangt. Vielleicht haben wir die Entideologisierung, auf die die politischen Parteien heute so stolz sind, zu weit getrieben. Reine Sachfragen sind keine Weltanschauungsfragen. Aber eine Politik, die das Weltanschauliche überhaupt ausschaltet, führt zu Opportunismus und Pragmatismus. Worauf sollten wir bei einer nur Taktisiererei noch vertrauen? Zu einer Vermenschlichung der Politik könnten auch Propagandisten beitragen, die in den letzten Jahren auch manches UnheU gestiftet haben. Wir meinen, daß die Krise der Koalition konkret vor allem vom letzten Nationalratswahl-kampf 1S62 herrührt.

Krisen gibt es immer und überall. Aber erinnern wir uns daran, daß die Krise nicht Ende, sondern Wendepunkt heißt. Alle Chancen stehen heute noch offen. Meine Betrachtungen scheinen so manchem vielleicht unzeitgemäß, da wir uns am Vorabend eines Wahlkampfes befinden, der der häßlichste der Zweiten Republik zu werden verspricht. Wie wäre es aber, wenn solche Überlegungen dazu anregen, nicht anstatt, aber neben der offiziellen ÖVP-SPÖ-Koalition eine unsichtbare Koalition all derer zu stellen, denen Österreich mehr bedeutet als Parteiinteresse. Dann brauchen wir eines Tages vielleicht wirklich kein offizielle! Parteienübereinkommen mehr.

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