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Europa auf mehreren Ebenen

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Eine EU-Verfassung wird bei der Turiner Regierungskonferenz nicht herauskommen. Worum es geht, sagt der Politologe Peter Graf Kielmansegg.

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Eine EU-Verfassung wird bei der Turiner Regierungskonferenz nicht herauskommen. Worum es geht, sagt der Politologe Peter Graf Kielmansegg.

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DIEFURCHE: Welche Antworten werden bei der Konferenz zu finden sein, und welche Strukturänderungen wird es geben?

KlELMANSEGG: Im Zentrum der Diskussion werden Fragen der Fortentwicklung der Verfassung der EU stehen. Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wird eine wichtige Rolle spielen. Und es werden wohl auch die Probleme der anstehenden Erweiterung behandelt werden. Was die Währungsunion betrifft, so sind nach dem jetzigen Stand der Dinge die Beschlüsse ja schon gefaßt. Man kann davon ausgehen, daß da noch manches erneut zu überdenken ist, aber das wird, soweit man das jetzt sagen kann, nicht Gegenstand dieser Konferenz sein.

DIE FURCHE: Vor welchen Herausforderungen steht der organisatorisch-institutionelle Bereich der EU? KlELMANSEGG: Die Organisationsfragen hängen wesentlich damit zusammen, daß die Gemeinschaft außerordentlich gewachsen ist, und daß viele ihrer Regeln in der größeren Gemeinschaft nur noch schwer zu praktizieren sind. Das betrifft das Einstimmigkeitsprinzip im Ministerrat, wo es immer noch eine sehr wesentliche Rolle spielt. Es schafft immer größere Schwierigkeiten, je mehr Mitglieder es gibt. Das betrifft die Zusammensetzung der Kommission, in die bisher die größeren Mitgliedstaaten zwei Kommissare, die kleineren einen entsenden durften. Das wird sich auf die Dauer nicht durchhalten lassen. Bei 15 Mitgliedstaaten sind wir an der Grenze angekommen. Ein ganz problematischer Punkt ist das ungeheuer komplizierte Gesetzgebungs-verfahren in der Dreier-Konstellation „Ministerrat-Kommission-Parlament”. Da gibt es außerordentlich verschiedene Möglichkeiten des Zusammenspiels zwischen diesen drei Instanzen, die einfach nicht mehr durchschaubar sind. Alle Beteiligten sind sich darüber im klaren, daß Vereinfachungen der politischen Struktur notwendig sind. Aber sie sind alle mit dem Verzicht auf bestimmte Bechts- und Machtpositionen verbunden und deshalb ist die Beform sehr schwierig. Man kann diese Be-formnotwendigkeiten auch als Frage nach einer europäischen Verfassung formulieren.

DIEFURCHE: Wird es zu einer Europäischen Verfassung kommen? KlELMANSEGG: Sicher nicht. Grundsätzlich stellt sich zunächst die Frage, ob man ein Vertragswerk überhaupt als Verfassung bezeichnen sollte. Denn ein Vertragswerk wird die Grundlage bleiben und insofern kann der Begriff Verfassung immer nur analog Anwendung finden. Aber mit diesem Vorbehalt spricht doch manches dafür, die Europäischen Verträge tatsächlich als Verfassung eines neuen Typus von politischem System zu verstehen, das sich eine Verfassung eben nur in Gestalt eines Vertrages geben kann. Diese Vertragsverfassung ist extrem kompliziert, war es aber von Anfang an. Die Verträge für die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, für die Wirtschaftsgemeinschaft und die Atomgemeinschaft waren unterschiedliche Bechtskonstruktionen, die ineinander gefügt werden mußten. Dazu kamen dann die Einheitliche Europäische Akte und der Maastrichter Vertrag. Dieser Prozeß hat zu einem Bereich wirklicher Supranationalität geführt.

Daneben gibt es jetzt zwei Bereiche, die ganz anders konstruiert sind, mit ausschließlich zwischenstaatlicher Zusammenarbeit, die freilich über das traditionelle Muster hinaus institutionalisiert ist: Die Außen- und Sicherheitspolitik und neuerdings auch bestimmte Bereiche einer gemeinsamen Innen- und Justizpolitik. Die Organe der EU haben da keine oder nur sehr speziell definierte Zuständigkeiten. Insbesondere kommt der Europäische Gerichtshof hier nicht ins Spiel, worauf die Engländer sehr großen Wert legen. Das Plädoyer für eine Europäische Verfassung besagt, daß man aus dieser überkomplexen Struktur ein einheitliches, stark vereinfachtes Institutionssystem mit einheitlicher Vertragsbasis herausarbeiten sollte.

DIEFURCHE: Auch sonstige Strukturen des traditionellen Staates sind nur bedingt auf die EU anwendbar. KlELMANSEGG: Man muß sich darüber klar sein, daß wir es in Europa mit einem sehr spannenden, wirklich historischen Experiment zu tun haben. Da entsteht etwas ganz Neues: In historischen Zeiträumen gedacht, kommt der neuzeitliche europäische Nationalstaat, der im 17./18. Jahrhundert Gestalt annimmt, jetzt in gewissem Sinne an sein Ende. Nicht in der Weise, daß er aufhört zu existieren, aber doch in dem Sinne, daß er die Souveränität und Autarkie, die ihn in den letzten zwei-, dreihundert Jahren gekennzeichnet haben, freiwillig aufgrund von Einsicht aufgibt, sie nicht, wie das früher war, im Wege der Unterwerfung verliert. Für das, was neu entsteht, können wir den Begriff „Staat” nicht mehr in der alten Weise verwenden. Am Ende wird mögli-cherweiser weder die Europäische Union ein Staat sein, noch werden es die früheren Nationalstaaten sein. Es wird ein neues, ein sogenanntes Mehr-Ebenensystem entstehen.

DIEFURCHE: Die nationalstaatlich gewachsenen demokratischen Strukturen werden sich aber nicht problemlos auf die EU übertragen lassen?

KlELMANSEGG: Davon kann sicher keine Bede sein. Es ist eine der zentralen Fragen, wie Demokratie in einem solchen Gebilde eigentlich gedacht werden kann. Man darf sich nicht der Illusion hingeben, daß eine Europäische Demokratie so funktionieren kann, wie wir das aus den relativ homogenen und relativ kleinen europäischen Nationalstaaten gewohnt sind. Bisher bestand der Legitimationsmechanismus der EU in einem Transfer der Legitimität von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft. Das Entscheidungszentrum war der Ministerrat, die demokratisch legitimierten nationalstaatlichen Begie-rungen repräsentierten die Mitglied-

Staaten und damit auch ihre Bürger im europäischen Entscheidungspro-zeß. Vermutlich sehen sich die meisten Europäer im großen und ganzen am ehesten durch ihre eigene Regierung in der EU vertreten. Sie wären beunruhigt, wenn sie wahrnähmen, daß der Einfluß ihrer eigenen Regierung, die sie in Brüssel vertritt, zurückgedrängt würde. Insofern stimmt diese Verfassung durchaus mit dem Empfinden der meisten Europäer überein.

DIEFURCHE: Die durch nationalstaatliche Regierungen vermittelte Legitimität wird also weiterhin eine Hauptrolle spielen?

KlELMANSEGG: Ganz gewiß. Aber wir sind zwangsläufig in ein immer schwierigeres Dilemma hineingeraten. Dieser Legitimitätsmechanismus funktioniert nur, solange die Einstimmigkeitsregel im Ministerrat wirklich gilt. Dieses Entscheidungsverfahren ist zwar sehr schwerfällig und hinderlich, hat aber das Argument für sich, daß alle Mitgliedstaaten jede Entscheidung mittragen und sie auch vor ihren Wählerschaften zu verantworten haben. Durch die Einführung der Mehrheitsregel im Ministerrat, die ja bedeutet, daß eine Gruppe von Staaten eine andere Gruppe von Staaten überstimmen kann, wird dieser Legitimitationstransfer vom Mitgliedstaat auf die Europäische Union stark beeinträchtig. Es bedarf dann fraglos zusätzlicher Mechanismen zur Legitimierung europäischer Politik. Der Übergang zur Mehrheitsregel ist aber ein zwingendes Gebot, weil die Einstimmigkeitsregel bei 15 oder noch mehr Mitgliedstaaten eine weitgehende Handlungsunfähigkeit zur Folge hat.

DIEFURCHE: Eine Kompetenzaufwertung des EU-Parlaments wäre doch eine sinnvolle Ergänzung zur nationalstaatlich vermittelten Legimität? KlELMANSEGG: Das ist in der Tat ein naheliegender Schluß. Wenn man die Analyse akzeptiert, daß mit dem Verzicht auf die Einstimmigkeitsregel im Ministerrat die bisherigen Legitimi-tationsmechanismen unzulänglich werden, dann liegt es nahe, das Parlament, das ja direkt von den Bürgern der EU gewählt wird, als zweiten Pfeiler der europäischen Legitimität einzubauen. Dieser Gedanke ist grundsätzlich richtig und zwingend. Man macht es sich aber zu einfach, wenn man annimmt, daß das Europäische Parlament in der gleichen Weise wie nationalstaatliche Parlamente Vermittler von Legitimität werden kann. Das kann es deshalb nicht, weil es keine sich selbst als europäisches Volk verstehende Wählerschaft repräsentiert. Die Wähler verstehen sich nach wie vor als Spanier, Dänen, Österreicher, Deutsche, Italiener, die eine Delegation in das Europäische Parlament entsenden. Nach seiner Konstruktion und in seinem Selbstverständnis ist das Parlament aber von der Fiktion getragen, daß es eine europäische Wählerschaft repräsentiert, die sich für europäische Parteien entscheidet. die Furche: Bleibt dk oft beschworene europäische Einheit nicht solange eine unwahrhaftige Formel, als sie den Osten Europas nicht miteinbezieht? KlELMANSEGG: Das ist im Grundsatz richtig gesehen. Man könnte argumentieren, daß Europa sich seine Aufgabe zunächst einmal gar nicht global zu stellen braucht. Europa hat in Europa genug zu tun. Die Integration des Ostens ist eine Aufgabe, die Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird. Der Zusammenbruch des Sowjetischen Imperiums, die Bückkehr Osteuropas nach Europa macht das Erweiterungsziel zwingend. Aber man muß sich natürlich darüber im klaren sein, daß diese durch die Wendung der Geschichte möglich gewordene Erweiterung bedeutet, daß ein anderes Europa dabei herauskommen wird als jenes, an das die Gründer einmal gedacht haben. Es werden dann 20 oder auch 25 Mitgliedstaaten sein. Wenn man sich das konkret vorstellt, bedarf es keiner weiteren Diskussion darüber, daß dieses vereinte Europa kein europäischer Bundesstaat sein wird. Die Möglichkeiten gemeinsamen Handelns werden sehr begrenzt sein. Aber es ist dennoch die einzig mögliche Entwicklungsrichtung. Der Preis, und aus der Sicht der ursprünglichen Konzeption ist es ein Preis, muß gezahlt werden, um die historische Chance der Bückführung Osteuropas nach Europa zu nutzen. die FtlRCHE: Welche Formen der Integration der Oststaaten werden wahrscheinlich sein?

KlELMANSEGG: Wie schnell und in welchen Formen im einzelnen die Osterweiterung stattfinden kann, ist eine komplizierte Frage. Vor allem ist das ein finanzielles Problem. Wenn man die jetzige Agrarpolitik und die jetzige Begionalpolitik unverändert weiterbetreibt, ist der Beitritt nicht finanzierbar. Von daher gesehen sind grundlegende Beformen im Bereich der europäischen Finanzen als Erweiterungsvoraussetzung unabdingbar. Neben der finanziellen Unterstützung erwarten die mittelosteuropäischen Staaten aber vor allem Marktzugang, den wir ihnen zurzeit nicht geben. Da wäre auch schon ohne Vollmitgliedschaft viel zu tun.Und sie erwarten mehr Sicherheit. Deshalb muß die EU im Zusammenhang mit der Osterweiterung auch über ihre sicherheitspolitische Kapazität nachdenken. In letzter Instanz aber geht es ganz einfach um Zugehörigkeit zu Europa, das müssen wir immer im Auge behalten.

Univ. Prof. Dr.

Peter Graf Kielmansegg, geboren 19)7 in Hannover, Studium der Rechtswissenschaft, Geschichte und Politikwissenschaft in Bonn, Kiel, Tübingen, Oxford; 1963 Promotion zum Dr. phiL in Bonn; Mitarbeiter von Prof. Eugen Kogon in Darmstadt; 1971 Habilitation im Fach Politikwissenschaft; 1971 Professor für Politikwissenschaft an der Universität üarmstadt, 1971-1985 in Köln, 1976/77 in Georgetown, Washington D.C.jUSA, seit 1985 in Mannheim. Kielmansegg war Mitglied der Europäischen Strukturkommission im Rahmen des Projektes „Strategien und Optionen für die Zukunft Europas” der Bertelsmann Stiftung und der Johannes Gutenberg Universität Mainz.

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