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Heute beginnt die Zukunft

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Als Ergebnis eines Seminars über „Politik für das Jahr 2000“ legt Otto Habsburg unter demselben Titel einen Text vor, der ursprünglich als eine Serie von Vorträgen gedacht war, die wir Disposition einer Diskussion dienen sollten. Eine Rezension zu einem zukunftsorientierten Thema ist eine schwierige Angelegenheit; schwieriger wird sie noch, wenn man den Namen des Autors einbezieht. Man versteht dann um so mehr den Satz aus dem Vorwort: „Ein Krebsschaden unserer Zeit ist die tote Last der Vergangenheit, deren Bewältigung heute Energien beansprucht, die anderweitig viel erfolgreicher eingesetzt werden könnten.“

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Als Ergebnis eines Seminars über „Politik für das Jahr 2000“ legt Otto Habsburg unter demselben Titel einen Text vor, der ursprünglich als eine Serie von Vorträgen gedacht war, die wir Disposition einer Diskussion dienen sollten. Eine Rezension zu einem zukunftsorientierten Thema ist eine schwierige Angelegenheit; schwieriger wird sie noch, wenn man den Namen des Autors einbezieht. Man versteht dann um so mehr den Satz aus dem Vorwort: „Ein Krebsschaden unserer Zeit ist die tote Last der Vergangenheit, deren Bewältigung heute Energien beansprucht, die anderweitig viel erfolgreicher eingesetzt werden könnten.“

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Auf diese Weise ermahnt, muß man feststellen, daß der Autor wirklich vermeidet, zur Unterstützung semei Ansichten und Lösungsvorschläge einen tiefen Griff in die Geschichte zu tun. Der wirtschaftspolitische und soziologische Teil des Buches ist ausgezeichnet geglückt, reichlich ist die Zitierung von Studien, Untersuchungen und zeitgenössischen Meinungen, wobei man bedauert, die Quellen nicht im Anhang genannt zu finden, Selbstverständlich kann heute niemand mit allen Bereichen der sesell-schaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung vertraut sein. Diese Schwierigkeiten merkt man einigen Kapiteln an, so etwa der „Qualitativen Sozialpolitik“, wo etwa die Interpretation der politischen Rolle des Bauerntums in den europäischen Staaten nicht ganz den Verhältnissen entspricht. Dr. Habsburg spricht davon, daß sich die Bauern nicht mehr durchsetzen können, wobei allerdings die Agrarpolitik der EWG oder etwa Österreichs ein beredtes Gegenbeispiel ist. Dieser politischen Feststellung folgend, müßte das vom Autor beschriebene „Gesundschrumpfen“ ja auch längst stattgefunden haben, und zwar auf jene Weise, die Dr. Habshurg auch nennt, nämlich im Sinne einer Eichmann-schen „Endlösung“. In beiden Kapiteln vermißt man eine Erörterung des Produktionsfaktors Arbeit, ebenso eine Auseinandersetzung mit der in den westlichen Industriestaaten doch stark entwickelten Sozialpartnerschaft.

Wenn Kritik vorgebracht werden muß, dann bei der Auseinandersetzung mit den ideologischen Strömungen unserer Zeit. Unter dem Titel „Eine geistige Wende?“ wird leider nur ein elfseitiger Uberblick über den theologischen Aspekt der Politik, über eine neue Religiosität, die Zukunftschancen des Kommunismus und die herausgeforderte Freiheit gegeben. Die Rolle der Religion, die Aufgaben der Kirchen, die Entwicklung der Menschenrechte, weiters die neuen Entwicklungen auf dem Gebiet der Linken hätten mehr Echo vertragen. Diese oft krisenhaften Erscheinungen haben ihre Wirkungen ja nicht nur auf Studenten ausgeübt, sondern führen schließlich zu einer starken Polarisation der Intellektuellen und ihrer Umwelt.

Ein weiteres Kapitel ist berechtigter Demokratiekritik gewidmet, wobei vielleicht die historische Rolle der Parlamente zu kurz kommt. Die Parlamente waren nie im Vollbesitz aller politischer Entscheidungsmacht; man kann ihnen daher heute nicht vorwerfen, daß sie es jetzt auch nicht sind. Sie sind historisch im Kampf gegen den Absolutismus entstanden und haben im Abtrotzen von politischen Rechten und in der Kontrolle der Autorität ihre Aufgabe gesehen. Interessant Ist die Beschreibung unserer politischen Ordnung im Sinne eines „Neufeudalismus“. Diese Beschreibung wird vom Autor sowohl für die Volksdemokratien als auch für die parteienstaatlichen westlichen Demokratien angewandt. Wenn man von allen Ressentiments gegenüber dem Begriff Feudalismus absieht, muß man festhalten, daß die autoritär geordneten Volsdemökra-tien eine härtere Kennzeichnung vertragen hätten. Der Autor selbst schränkt die Bezeichnung für die westlichen Demokratien in ihrer Bedeutung dadurch ein, daß er diese Entwicklung hier erst im Anfang vermutet. Das Auftreten der Kennedy-Familie scheint allerdings auch noch ein zu geringes Indiz zu ein, um hier bereits von Feudalordnung zu sprechen. Die Vermutung, daß bei Erblichkeit von Ämtern feudale Entwicklungen abzusehen sind, scheint deswegen schon nicht ganz zutreffend zu sein, weil diese soziale Ordnung früherer Jahrhunderte alle drei klassischen staatlichen Gewalten erfaßte. Entscheidend scheint auch noch, daß der Bezugspunkt des Feudalismus, nämlich die Berufung auf eine von oben gegebene Ordnung, heute völlig wegfällt und auch mit der Vorstellung von Volkssouveränität nicht vereinbar ist. Ebenso einseitig ist die Feststellung, daß Diktaturen leichter bei Verhältniswahl-recht in der Demokratie entstehen können. Das angloamerikanische Mehrheitswahlrecht hat eine starke Tradition; das gegenwärtig praktizierte französische Mehrheitswahlrecht hindert nicht daran, der 5. Republik durch ihren plebiszitären Charakter autoritäre Züge zu geben. Dieser Kritik kann aber Habsburg schon deswegen nicht beipflichten, weil er die Formel der 5. Republik eher positiv zur Diskussion stellt, wobei er sich aber der Gefahren durchaus bewußt ist. Er ergänzt das französische System der Konzentration der Macht durch „Die Schaffung einer Autorität, die vom Volksmandat unabhängig ist“. „Diese Instanz hätte die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zu prüfen und die neutrale Haltung des Staates jenseits der sich bekämpfenden Parteien und Gruppen zu gewährleisten.“ Der Autor geht dann näher darauf ein, wie er sich diese Mischung von Ombudsman und Staatssymbol vorstellt. Er schlägt eine Aufteilung der Prärogative des Staatsoberhauptes, vor, wonach man einen Chef der ausführenden Gewalt, der durch direkte Wahl von der Gesamtnation beauftragt wird, kennt, weiters einen Ministerpräsidenten, der gleicherweise das Vertrauen des Oberhauptes der Administration und der Gesetzgebung besitzen muß, schließlich den höchsten Träger des Richteramtes, dessen wichtigste Aufgabe es wäre, die Rechte der Staatsbürger zu schützen und die Macht der Mächtigen zu beschränken. Habsburg spricht hier von einem Gleichgewicht, das das Gebot des schnellen Handelns befolgt und die Rechte und Freiheiten des einzelnen wahrt. Zur Ausführung dieses Gedankens wäre noch eine Beschreibung des Richiteramtes und seiner Berufung notwendig; demnach ergibt sich dabei die klassische Frage: „Wer richtet die Richter?“

Die Vorlage des Buches ist verdienstvoll, weil es eine Fülle von Material, Prognosen und Konzeptionen bringt Es ist geeignet, vor allem weltpolitische Probleme transparent zu machen; hinsichtlich der ordnungspolitischen Vorstellungen ergeben sich allerdings gewisse Unscharfen, die einer tieferen Durchdringung wert wären.

POLITIK FÜR DAS JAHR 2000, Von Otto Habsburg. Verlag Herold, Wien-München, 1968.169 Seiten. S 98.—.

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