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Ideelle Werte betonen

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Die EU-Debatte habe sich zu sehr um materielle Fragen gedreht, kritisiert Alt-Bundespräsident Kurt Waldheim.

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Die EU-Debatte habe sich zu sehr um materielle Fragen gedreht, kritisiert Alt-Bundespräsident Kurt Waldheim.

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PIEFURCHE: Abseits von wirtschaftlichen Überlegungen -was macht für Sie die Idee eines größeren Europas aus?

Kurt Waldhkim: Ich glaube, daß die Tendenz insgesamt, nicht nur in Europa, in Richtung größere Gemeinschaften geht. Man ist doch im Laufe der letzten Jahrzehnte zur Erkenntnis gelangt, daß sich dieses Europa nur im größeren Verband wird durchsetzen können. Heute, wo es in der ganzen Welt diese Tendenzen zur überregionalen Zusammenarbeit gibt, sollte der europäische Kontinent nicht weiter aufgesplittert sein. Die EU ist ein gutes Beispiel dafür, daß deren Mitgliedsstaaten aus dieser Integration profitiert haben. Dieser Wohlstand, den es in Westeuropa gibt, war letztlich nur durch die Zusammenarbeit der zwölf Staaten möglich. Man sieht dies auch in Amerika, wo die Dimensionen noch viel größer sind, etwa die nordamerika-nische Wirtschaftsgemeinschaft NAFTA zwischen den USA und Kanada, die jetzt auf Mexiko erweitert wurde. Diese Tendenz in Richtung größere Einheiten ist nicht nur in wirtschaftlichen Bereichen deutlich erkennbar: damit meine ich vor allem die Sicherheitsaspekte, daß ein größerer Verband eben eher in der Lage ist, die Sicherheit seiner Mitglieder zu gewährleisten als einzelne Staaten.

Und dieser Schutz wird ausschließlich Mitgliedern gegeben - wer außerhalb dieser Gemeinschaft steht, kann nicht erwarten, diesen Schutz zu bekommen.

DIEFüRCIIE: Nun hat aber die Bundesregierung erklärt, auch nach einem allfälligen EU-Beitritt an der Neutralität festhalten zu wollen WALDHEIM: Selbstverständlich erfordert die EU-Mitglied-' schaft, die ich für richtig halte, nicht, daß wir die •Neutralität aufgeben müssen. Das ist ja klärgestellt worden. Wenn wir einmal Mitglied der EU sind und sich die Frage nach der Mitgliedschaft in der WEU stellt, ist natürlich der Zeit-

5unkt gekommen, über die leutralität nachzudenken -inwieweit diese gerechtfertigt ist oder ob wir glauben, im Rahmen dieser EU ein neues Sicherheitssystem zu haben, das für uns ausreichend ist. Ich meine damit ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem. Die Neutralität wird, sollten wir der EU beitreten, einen anderen Stellenwert haben - aber es ist nicht notwendig, bereits jetzt darüber eine Entscheidung zu treffen. Da kann man dann in aller Ruhe darüber nachdenken, wenn es einmal soweit ist.

PIeFurchE: Delors hat einmal festgestellt, daß sich die EU der Frage nach dem Sinn einer europäischen Einigung nicht entziehen könne - und daß dieser Sinn primär in der materiellen Wohlstandssteigerung liege, sei lange Zeit zu stark in den Vordergrund gerückt worden Waluheim: Ich halte diese Überlegungen für sehr wichtig, die über das Materielle hinausgehen. Die ideellen Werte sind gerade für Europa von besonderer Bedeutung, das ja eine so lange Geschichte hat, die man mit einkalkulieren soll, wenn man über die Integration spricht. Ein Aspekt dieses Integrationsprozesses in Europa ist natürlich die Frage nach dem Sinn - es ist gut, daß man darüber diskutiert. Ich glaube, daß wir über die Bedeutung dieses Aspektes auch eine andere Auffassung haben als zum Beispiel die Amerikaner, die darüber vielleicht anders denken. Denn bei aller Würdigung ihrer Verdienste in wirtschaftlicher Hinsicht glaube ich doch, daß wir in Europa auch anderen Aspekten wie der kulturelle Entwicklung oder der Frage nach dem Sinn der Existenz eine größere Bedeutung geben. Und ich glaube, daß wir gerade bei der Frage nach einem größeren Europa diesen Aspekten mehr Bedeutung geben sollten. Nicht nur das Materielle sollte diskutiert werden, sondern auch das Ideelle.

PIEFURCHE: In bezug auf die aktuelle EU-Entscheidung: war es nicht vielleicht ein Fehler, daß die Debatte und die Information viel zu sehr materielle Bereiche betroffen hat? WALDHEIM: Es ist völlig klar, daß wir in einer Wohlstandsgesellschaft leben und daß daher die materialistischen Überlegungen bei weitem die Überhand gewonnen haben gegenüber den ideellen Werten. Das ist sicher ein Nachteil und eine Entwicklung, die ich sehr bedauere. Denn, wie es so schön heißt, der Mensch lebt nicht vom Brot allein - er braucht ideelle Werte. Und es mag sein, daß in dieser Diskussion im Interesse einer gewissen Vereinfachung nur die materiellen Werte herausgestrichen wurden; daß es den Menschen besser gehen wird und das alles billiger wird. Das war eine viel zu sehr materiell bedingte Diskussion. Und man soll die Menschen nur nicht unterschätzen: ich habe immer wieder gesehen, daß letztlich, wenn man offen mit den Leuten spricht, viele auch bereit sind Opfer in Kauf zu nehmen. Man muß den Leuten nicht immer erklären, daß alles besser werden wird, die Menschen mehr verdienen werden und alles insgesamt leichter wird. Die Menschen sind g'scheit genug um zu wissen, daß einem im Leben nichts geschenkt wird. Und Wenn man ihnen glaubhaft die Probleme erklärt, werden die Leute auch bereit sein, Opfer auf sich zu nehmen, wenn sie davon überzeugt' sind, daß das Ziel ein gutes ist. Und wenn ich mir die vielen Plakate und andere Werbeträger anschaue, dann ist das meiste auf das Materielle abgestellt, während der ideelle Aspekt zu kurz kommt. Und das hängt wiederum eng zusammen mit der Frage der Identität. Es gibt viele, die besorgt darüber sind, ob wir unsere mühsam nach dem Zweiten Weltkrieg erworbene Identität aufrecht erhalten. Ich glaube, daß wir bei der Frage über die europäische Integration und unseren Beitritt zur EU diese ideellen Werte wesentlich stärker berücksichtigen sollten. piefurche: Historisch gesehen - welche Bedeutung würden Sie der Entscheidung über den EU-Beitritt beimessen?

Waldhei.M: Es ist sicher die wichtigste Entscheidung seit 1955, dem Abschluß des Staatsvertrages, als wir wieder ein souveräner, unabhängiger und freier Staat geworden sind. Die EU-Volksabstimmung am kommenden Sonntag ist sicher von historischer Bedeutung -weil es nämlich um die Frage geht, ob wir unsere Probleme in Zukunft in Isolation lösen werden, oder als gleichberechtigtes Mitglied einer größeren Gemeinschaft.

Mit Alt-Bundespräsident

Kurt Waldheim sprach Norbert Stanzet

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